piwik no script img

NUKLEARINDIANER

VONLUDGERLÜTKEHAUS  ■ 

Von einigen süd- und nordamerikanischen Indianerstämmen ist sie bekannt: die Sitte der Zweifachbestattung. Sie hat sich aus der Vorstellung entwickelt, der Geist der Toten gehe nicht gleich endgültig ins Totenreich hinüber, sondern bleibe noch einige Zeit in der Nähe seines bisherigen Aufenthaltsortes, wo er dann seine Angehörigen gelegentlich weiter störe. Kurzum: man traute dem Tod der Toten nicht so recht. Verständlich, daß der provisorischen Zwischenlagerung unter diesen Umständen noch die Endlagerung folgen mußte. Bei den brasilianischen Baróro und Cayapó nahm man diese in einer Begräbnishütte vor; bei den Indianern des nordamerikanischen Südostens wählte man für die Knochen eine hölzerne Kiste als ewige Lagerstätte.

Nun gut. Eine ethnologisch hochinteressante Sitte, gewiß, aber doch aus größter zeitlicher und räumlicher Ferne. Warum davon erzählen: ein weiterer überflüssiger Beitrag zum Columbus-Jahr? Weit gefehlt: Die Zweifachbestattung ist von wunderbarster Aktualität.

Wie gemeldet, ist der französische Konzern Bouygues von der ukrainischen Atomenergiebehörde beauftragt worden, dem Unglücksreaktor von Tschernobyl einen „zweiten Sarkophag“ zu verpassen. Dem bröckelnden ersten, fünf Jahre ist er gerade alt, billigen die Experten bestenfalls noch eine Lebensdauer von 30 Jahren, dem neuen aber ein ganzes Jahrhundert zu. Er möge ruhen in Frieden!

Man mag einwenden, daß hier genaugenommen nicht der Schein- oder Halbtote ein zweites Mal, sondern der erste Sarkophag beerdigt werde. Aber darin steckt doch noch, wie wir vermuten dürfen, der Erstbestattete. Des Pudels Atomkern: Wie die Baróro und Cayapó dem Tod der Toten, so trauen die Nuklearindianer ihrem ersten Stillegungsversuch icht recht. Doppelt gemoppelt hält einfach besser.

Und eine gewisse Zeit sollte es schon halten; denn sonst nähme die große kommerzielle Vernunft Schaden, die mit besagter französischer Firma ein Unternehmen mit der Bestattung — sozusagen die „pompes funèbres“ des Atomzeitalters — beauftragt hat, das mit seinen rund 1.000 Firmen in 70 Ländern und insgesamt 70.000 Beschäftigten auch Atomreaktoren baut. Die Maxime jeder Konzernbildung bewährt sich auch hier: „Alles aus einer Hand“ — Erzeugung und Bestattung, Geburt und Tod.

Andererseits ist die zweite Entsorgung — und das unterscheidet die Absichten der Nuklearindianer wiederum von denen der Baróro und Cayapó — von vornherein nicht endgültig gemeint. Schließlich muß auch nach hundert Jahren für den Konzern noch etwas zu tun sein. Aber darauf ist auch Verlaß. Die Baróro und die Cayapó waren doch noch zu bescheiden dran. Bei allem Mißtrauen gegen die Stillegungswilligkeit der Toten ließen sie es bei einer Zweifachbestattung in Holz bewenden; wir hingegen können uns angesichts der anhaltenden Uneinsichtigkeit des Bestatteten, der Lebensdauer, die der erste Sarkophag von Tschernobyl unter Sicherheitsbeweis gestellt hat, und der Prognosen für den zweiten schon jetzt etliche weitere Einsargungen in Beton versprechen. Von der Mehrwegverpackung zur Mehrfachbestattung lautet die atomökologische Maxime. Oder denken wir nur ans Auto: Was uns beim Trend zum Zweitauto recht ist, sollte uns beim Drittsarg billig sein. Ja, nehmen wir noch die lumpigen paar tausend Jahre mittlerer Zerfallszeit für das eingesargte Scheintotengut hinzu, dürfen wir auf ganze Serien von betonierten Dritt-, Viert-, Fünft- ... -Sarkophagen rechnen. Das sichert Arbeitsplätze auf Jahrtausende hinaus!

Paradoxerweise liegt an diesem Punkt unserer Betrachtung ein Bild aus der noch nicht eingesargten Natur nahe: die Jahresringe der Bäume. Wir wir sie im Querschnitt durch einen gefällten Baum abzählen können, so werden sich einem Sarkophagbetrachter, sagen wir: einem Atomförster des Jahres 10.000, die Jahrhundertsärge enthüllen, vielleicht daß sich der Halbtote endgültig zur Ruhe gelegt hat, oder daß wir aus irgendeinem anderen Anlaß Einblick gewinnen können.

Aber es ließe sich natürlich auch an einen anderen Bereich und da an einen Mann wie den gottseligen Schliemann denken, der es ja ebenfalls mit den Schichten hatte: Was wird sein Troja1 bis 7 demnächst gegen das Tschernobyl2 bis X seines atomaren Nachfahren sein! Eine ganz neue Archäologie ist in Sicht. Und gewiß schon vorher ganz andere Formen der Bestattung.

DESPUDELSATOMKERN:VONDERERST-ZURMEHRFACHBESTATTUNG

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen