: „Geschminkte Leiche“ oder neue Medienstadt?
Heute wird in der traditionsreichen Bücherstadt Leipzig die Frühjahrs-Buchmesse eröffnet/ 800 Verlage aus 15 Ländern haben sich angekündigt/ Nach dem Desaster im letzten Jahr muß sich die zweite deutsche Buchmesse beweisen ■ Aus Leipzig Nana Brink
„Leipzig ist der Mittelpunkt des deutschen Buchhandels, der sich seit der Mitte des 18. Jh. hier seinen Hauptsitz gewählt hat. Die Stadt zählt über 1.100 buchhändlerische Geschäfte, 250 Druckereien und ist der Hauptstapelplatz für den buchhändlerischen Verkehr Deutschlands.“ Mit Stolz vermerkt der Baedeker-Reiseführer „Leipzig“ 1923, was selbigen Verlag schon 1873 bewog, in „die“ deutsche Buchstadt umzuziehen.
Bis 1945 befand sich Baedeker in bester Gesellschaft: Kiepenheuer, Reclam, Insel, Brockhaus beherrschen von der Pleiße aus das deutsche Verlagsleben; der 1825 gegründete Börsenverein des deutschen Buchhandels formiert sich zur mächtigen Interessenvertretung; im „Graphischen Viertel“ um den Leipziger Platz entstehen mit Anbruch des industriellen Zeitalters die größten Druckereien Deutschlands; mit über 80.000 Titeln verfügt die Kommissionsbuchhandlung Koehler & Volckmar über das größte Barsortiment und bestimmt zusammen mit 42 weiteren Buchhandlungen fast monopolartig das Kommissionsgeschäft. Wer nicht „über Leipzig“ verkehrt, war für den deutschen Buchhandel nicht existent.
Der „Hauptstapelplatz“ steht knapp 50 Jahre später auf der Kippe. Auf der wilden Deponie Kömmlitz bei Borna entsorgte der ehedem volkseigene Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel seine Altlasten. Auf über 10.000 Paletten bedrucktem Papier aus DDR-Produktion ließen die Buchhändler Ost die verzweifelten Kommissäre sitzen. Sang- und klanglos verschwanden die Bücherleichen — neben Propagandamaterial auch Klassiker- und Lyrikbände — unter der Baggerschaufel. Das poststalinistische Autodafé als Ende eines dreihundertjährigen Superlativs. Vorläufig.
Die „geschminkte Leiche“
Ein seit zwei Jahren totgesagtes Kind der noch totgesagteren Buchstadt Leipzig entsteigt in diesen Tagen dem vielzitierten „Grab der ostdeutschen Kultur“ ('Die Welt‘). Nicht wie Phönix aus der Asche, eher wie das Sandmännchen aus der Deponie. Von 7. bis 10. Mai findet in Leipzig eine Frühjahrsbuchmesse statt — trotz oder gerade wegen Frankfurt.
Die Totenmessen des deutschen Feuilletons und der westdeutschen Verlagslobby übergehend, rafft sich die „geschminkte Leiche“ ('FAZ‘) mit über vierhundertjähriger Tradition zu neuem Leben auf. Und diesmal ist es die letzte Chance. Das vergangene Jahr zeigte das ganze Ausmaß des Desasters: Die westdeutschen Verlage, 340 an der Zahl, klagten über mangelnden Zuspruch und ließen ihre Stars und Sternchen zu Hause; ebenso fanden die ostdeutschen Buchhändler, mit Privatisierungs- und Sortimentssorgen beschäftigt, nicht nach Leipzig. Die Besuchermassen blieben aus: Anders als früher erschienen weder die großen Namen zu spektakulären Lesungen, noch mußte man die Neuerscheinung bei rororo klauen. Selbst die langgehegten Beziehungen zu osteuropäischen Verlagen sind perdu. Sie können sich die Standmieten nicht leisten.
Obwohl die Buchmesse 1991 die größte in der Nachkriegsgeschichte Leipzigs war, war sie die kleinste. Mühsam rang sich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der öffentlichkeitswirksam seine Hauptversammlung nach Leipzig verlegte, dazu durch, bis 1995 eine Garantieerklärung abzugeben. Nun wartet alles: Frankfurt, zur organisatorischen Schützenhilfe verdonnert, starrt auf die kleine Schwester, als könne jene entwickeln, was sie nicht hat — Intimität, die aus dem Verbraucher wieder einen Leser macht. Die Leipziger Messegesellschaft wartet auf die angekündigten 800 Verlage aus 15 Ländern und verfolgt die jüngsten Streikmeldungen aus den westdeutschen Flughäfen.
Die herbeigerufenen Dichter, Denker, Diskutierer warten auf das Publikum, und letzteres wartet auf das „Buchfest“ für 5 DM pro Tag. Die (Groß-) Verlage West warten nicht auf Umsatzzahlen, sondern auf die ihnen in Hochglanzbroschüren präsentierte „Begegnung zwischen Mensch und Buch“, besser, zwischen ostdeutschem Mensch und westdeutschem Buch, und die ostdeutschen (Klein-) Verlage warten auf die fällige Anerkennung. Erwartungsgemäß hört keiner auf die Warnung des einzig wirklichen Stars der letzten Buchmesse, den Anfang der 60er Jahre vertriebenen Leipziger Literaturpapst Hans Mayer, der in einem vielbeklatschten Heimspiel befand: „Geduld. In ein paar Jahren wird sich zeigen, ob Leipzig noch Buchstadt ist.“
Für berufsmäßige Enthusiasten vom Schlage Peter Greulichs stellt sich die Frage so nicht. Der Projektleiter der Buchmesse hat mit einem gerade mal fünfköpfigen Team ein „Mammutprogramm“ entworfen: 200 Veranstaltungen von der Grassschen Buchpremiere bis zum zweiten Sächsischen Medienforum einer Hommage an Uwe Johnson mit „Festakt“, der Ausstellung „Schönste Bücher aus aller Welt“ und diversen Preisverleihungen, nicht zu vergessen die Eröffnungsgala im Gewandhaus, wo zu den Klängen des hauseigenen Orchesters der Deutsche Günther de Bruyn und der Pole Andrzej Sczcypiorski „mit ihren Reden Brücken schlagen über die Oder, hin zu einer Vision über den gemeinsamen europäischen Kulturraum“. „Überlebenswichtig“ sei der Medienrummel, sagt der ständig in der Legitimitätskrise steckende Messe- Mann, und es klingt ein wenig nach: viel bringt viel. Die heruntergekommene Buchstadt zeigt medienwirksam und ganz im Frankfurter Sog ihre Muskeln. Über Inhalte wird nur verhalten geredet: Wird Leipzig wieder einmal eine Drehscheibe zwischen Ost und West, ein Buchfest mit Autoren zum Anfassen und pädagogischen Absichten im Medienzeitalter, eine Tribüne deutsch-deutscher Provinzialität in dem Anspruch, die neue wiedervereinigte Literatur zu finden oder auch — nur insgeheim — eine kleine Schmollecke für postsozialistisches Biedermeier?
Wer arm ist, muß klug sein
„Es gibt kein Rezept für Leipzig“, sagt einer, der zu wenigen sogenannten Trägern eines literarischen Lebens in Leipzig gehört. Peter Hinke, Besitzer der 1990 gegründeten Connewitzer Verlagsbuchhandlung, setzt auf Eigeninitiative. Eine „Szene“ gebe es in Leipzig nicht, vielleicht eine Handvoll Unermüdlicher. Hinke, der einstigen Vorwende-Kulturszene nahe, setzt bewußt auf Abstand. „Bloß keinen neuen Mief“, wehrt der gewiefte Geschäftsmann und Bücherfreak ab. Der Jungverleger, der jetzt seinen neuen Verlag präsentiert, begreift den Standort Leipzig immer noch als Chance. „Die Chance liegt in der Aufmerksamkeit, die dem eigentlichen Gegenstand einer Buchmesse gewidmet werden kann — nämlich dem Buch.“ Hinke hält es da gern mit Mayer: „Wer arm ist, muß klug sein und Geduld haben.“ Bei allem Wohlwollen den neuen Machern gegenüber kann Hinke nicht begreifen, warum bestimmte Mängel auch im Jahre 2 des Neustarts nicht behoben wurden. Der Zeitpunkt der Messe — zwischen den Programmen der Verlage und vor dem Sommerloch — ist für jeden Buchhändler der denkbar ungünstigste.
Wer in Leipzig die Buchstadt sucht, wird enttäuscht. Statt dessen — Mythen. Jene bemüht auch Leipzigs Kulturdezernent Georg Girardet, der erst kürzlich den über Monate verwaisten Posten übernahm, da die Buchstadt keinen hiesigen Berufenen fand. Wie alle freiwilligen Neuleipziger schwärmt er von den alten Traditionen. Was dem einen die Messestadt, ist dem anderen die Banken- und Handelsmetropole. Girardet, selbst aus einem Verleger-Elternhaus, „spürt“ noch verlegerisches Leben, das Umfeld für eine Buchmesse, und zählt die 53 Buchhandlungen auf. Überrascht sei er gewesen, wie groß der öffentliche Protest war, als das „Internationale Buch“ in den Messepassagen dichtmachen mußte: „Da muß ja wohl noch etwas sein.“
Medienstadt-Träume
Leipzigs neue Stadtelite hat noch mehr Träume. Was Kleinblittersdorf die Dreifachturnhalle, ist Leipzig die „Medienstadt“, die Buchstadt von morgen. Eine Handvoll Architekten und Medienwissenschaftler fanden sich Anfang 1990 zu einer Bürgerinitiative zusammen, die vorrangig das einst gerühmte und durch einen alliierten Bombenangriff 1943 nahezu vollständig zerstörte „Graphische Viertel“ revitalisieren wollte. Auf der Suche nach geeigneten Perspektiven für die Stadt inmitten des sächsischen Chemie- und Braunkohledreiecks erklärten die Stadtoberen die „Medienstadt“-Idee bald zur Chefsache. Die Gesellschaft „Medienstadt Leipzig“, der neben der Stadt vier private Unternehmen angehören und die sich die Belebung des Viertels — nicht zum eigenen Schaden — auf die Fahnen geschrieben hat, hat eher praktische Interessen: Büroflächen sollen geschaffen werden. Das polygraphische Gewerbe hingegen liegt am Boden. Selbst im Amt für Wirtschaftsförderung glaubt man hinter vorgehaltener Hand nicht an eine Ansiedlung von Druck- oder Verlagsbetrieben. Zu klein sind die Grundstücke, zu veraltet die noch vorhandenen Industriedenkmäler.
Trotz MDR, die Bilanz nach zwei Jahren Medienstadt spricht eine andere Sprache: Vier Zeitungen verschwanden vom Markt, darunter zwei ostdeutsche Neugründungen. Schlagzeilen schreiben allein die 'Leipziger Volkszeitung‘, das Ex- SED-Bezirksorgan und nun zu 50 Prozent dem Springer-Konzern angehörig, und 'Bild Leipzig‘. Auch in der Verlagslandschaft gibt es wenig Bewegung. Keines der großen Häuser wird nach Leipzig zurückkehren, die eigenständigen DDR-Verlage wie Reclam oder Insel wurden lediglich zu Dependancen der westdeutschen Mutterhäuser.
„Von uns werden nicht nur Federn, sondern auch Bücher übrigbleiben“, sagte Stefan Richter, Nachwende-Verlagsleiter von Reclam Leipzig. Er scheiterte mit einem ambitionierten Programm — nicht auf dem Markt, sondern bei den Stuttgarter Reclam-Machern. Daß Geduld nicht zu den Tugenden westdeutscher Verleger gehört, hat auch Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld unmißverständlich klargemacht. Sein Statement zur Leipziger Buchmesse: „Quatsch. Der Stand von Suhrkamp auf der Messe gehört zu den größten.“
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