: 40 Prozent der Europäer bleiben zu Hause
Knappe Urlaubskassen einerseits und wachsendes Fernweh andererseits bedrohen das Tourismusgeschäft in Europa/ Den Touristen zuliebe werden Berge begradigt und Landschaften asphaltiert — alles ganz „natürlich“ und „umweltverträglich“ ■ Aus Brüssel Michael Bullard
Die Liebhaber eines umgestülpten Magens sind in Belgien noch in der Minderheit, sie liegen jedoch im Trend. Kopfüber durch die Tornado- Spirale zu rasen oder im kenternden Piratenboot um sein Leben zu bangen— fast die Hälfte aller Belgier ziehen dergleichen Ungemach in Vergnügungsparks einem teuren Urlaub in der Familienkutsche vor. Dabei sind sie keinesfalls ein Sonderfall, stellte die auch in Urlaubsfragen engagierte EG-Kommission kürzlich fest: Etwa 40 Prozent der Europäer fahren nicht in den Urlaub — Tendenz steigend; die anderen dagegen verlassen am liebsten während der Ferien den alten Kontinent. Das Nachsehen haben vor allem die traditionellen Reiseziele in Südeuropa — Karibik statt Korsika, Nepal statt Neapel.
Die Eurokraten verfolgen diese Tendenzen mit Sorge. Denn sowohl das wachsende Fernweh der zahlungskräftigen Kundschaft wie auch die zunehmende Urlaubsmüdigkeit der weniger bemittelten Europäer bedrohen das Geschäft mit dem Reisen. Dank eines Jahresumsatzes von 2.000 Milliarden Dollar liegt die Branche zwar vor allen anderen Industriezweigen. Doch der europäische Fremdenverkehr verliert Marktanteile gegenüber der weltweiten Konkurrenz. Während der internationale Tourismus in den vergangenen Jahren um fast acht Prozent zulegte, nahm der Euro-Tourismus „nur“ um fünf Prozent zu. Auch verschieben sich innerhalb der Gemeinschaft die Reiseströme. Der „Nord-Süd-Verkehr“ nimmt ab, dafür fahren immer mehr Südeuropäer in den Urlaub, der Touristenstrom in Richtung Norden und Osten wächst.
Von den weltweit jährlich etwa 350 Millionen Reisenden sind 60 Prozent Europäer. Alle zusammen nehmen die Dienstleistungen von 112 Millionen Menschen in Anspruch. In der EG sind etwa sechs Prozent aller Beschäftigten in der Reisebranche beschäftigt. Sie tragen zu fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Trotz dieser beeindruckenden Zahlen werde der Branche nicht genügend Aufmerksamkeit von den Regierungen zuteil, beklagt sich Geoffrey Lipman, Präsident des World Travel and Tourism Council mit Sitz in London. Allerdings haben die EG-Staats- und Regierungschefs dem Tourismus zu neuen Ehren verholfen, indem sie ihn zusammen mit Katastrophenschutz in die Maastrichter Reformverträge aufnahmen.
Daß das Geschäft mit dem Reisen zur EG-Sache erklärt wurde, hat die Reisebranche den Regierungen der südlichen Mitgliedsländer, vor allem Spaniens und Italiens, zu verdanken. Diese Lobby sorgt auch dafür, daß die Kommission im Rahmen ihrer Strukturpolitik für wirtschaftlich benachteiligte Gebiete in der EG Milliarden in Tourismusprojekte investiert. Allein aus dem Regionalfonds wurden zwischen 1989 und 1991 etwa 3,2 Milliarden DM für Tourismusprojekte und -programme bereitgestellt. Damit soll eine einkommensfördernde Industrie aufgebaut werden.
Denn gerade für die Wirtschaft der Mittelmeerländer, so der offizielle Tenor, habe der Tourismus eine „lebenswichtige Bedeutung“. Deshalb werden mit EG-Geldern Naturreservate und Vogelschutzgebiete beispielsweise im griechischen Nationalpark Prespa oder in den Ost- Pyrenäen begradigt und asphaltiert, die gleichzeitig von EG-Umweltrichtlinien geschützt sind. Der Tourist ist eben König. Seiner Verköstigung, Beförderung und Bequemlichkeit zuliebe werden Fischzuchtstationen, Autobahnen oder Staudämme mit Turbinenanlagen in ökologisch wertvolle und sensible Gegenden gebaut.
Besonders ermutigt wurde diese widersprüchliche EG-Politik 1990, das zum „Europäischen Jahr des Tourismus“ auserkoren wurde. Das Werbejahr sollte dazu dienen, „Europa“ als Reiseziel bekanntzumachen. Die Aktion wurde allerdings von vielen Reiseveranstaltern als Flop bezeichnet. Wohl deshalb setzte die Kommission letztes Jahr mit einem Aktionsprogramm nach. Damit sollen „Politik und Maßnahmen der Mitgliedsregierungen koordiniert“ werden. Man will eine gemeinschaftliche Fremdenverkehrsstatistik aufbauen und die Ferientermine sowie die Reiseströme in den verschiedenen Ländern entzerren. Lücken sieht die Kommission auch im Verbraucherschutz.
Geplant ist zudem die Förderung ländlichen Fremdenverkehrs als „natürlicher Alternative zum Massentourismus“. Dabei sollen vor allem Umweltaspekte berücksichtigt werden. Ein Umweltpreis der Gemeinschaft könne größere Anreize für den sanften Tourismus geben. Und selbst an die Opfer des Binnenmarkts denken die Eurokraten: Durch die Förderung des „Sozialtourismus“ soll auch älteren oder behinderten Menschen, Jugendlichen und alleinerziehenden Eltern die Möglichkeit gegeben werden, Urlaub zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen