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Heimat, Tiefgang, Schieflage

Roland Fichet in Darmstadt & Saarbrücken — 2 deutsche Erstaufführungen  ■ Von Jürgen Berger

Die leicht ansteigende Wiese mit einer Gruppe von Menhiren im Hintergrund liegt in der Nähe des Meeres. Hin und wieder hört man Autogeräusche, auf der Wiese jedoch scheint die Zeit stillzustehen. Es ist ein merkwürdiger Ort, vielleicht eine alte bretonische Kultstätte. Mit rechten Dingen kann es hier nicht zugehen, und so läßt man in der deutschen Erstaufführung von Roland Fichets Strohhochzeit lang hinhaltend und geheimnisvoll die Lichter angehen.

In der Morgendämmerung schält sich heraus, daß vier der Menhire höchst lebendig sind, die bretonische Landschaft spuckt die Protagonisten des Stücks wie Reste einer vergangenen Zeit aus. Die Eingangsszene ist ein schneller Höhepunkt im Darmstädter Staatstheater, die hyperrealistische Kunstlandschaft von Bernd Damovsky, einem Schüler Karl Ernst Herrmanns, und die Lichtregie geben dem Geschehen die Atmosphäre eines Traumspiels.

Eigentlich müßte es so weitergehen. Die vier Verstörten wollen den Ort ohne Zukunft verlassen, aber ihr alter Citroen hat den Geist aufgegeben, ruht wie eine Blechskulptur auf der Wiese. Etwas abseits steht das hochherrschaftliche Elternhaus der Geschwister Hélène, Jobloud und Zaac. Vigre war der Knecht, für die drei Geschwister ist er es immer noch. Er könnte zum gefährlichsten Träumer werden; wenn er in Darmstadt allerdings an Hélène herantritt und ihr einen Heiratsantrag macht, ist er schon längst der gute Onkel von nebenan, der weder Klassenkonflikt noch erotische Irritation auf die Bühne tragen kann.

Roland Fichets Viererbande ist wie der Theaterautor selbst in der Bretagne verwurzelt. Seit Anfang der achtziger Jahre schreibt er alljährlich ein Stück, inszeniert wird sein Werk hauptsächlich in bretonischen Theatern wie in Rennes und Saint-Brieuc.

Im Gespräch erzählt Fichet, daß er vor allem über die allmähliche Zerstörung der Lebensstrukturen seiner Region schreiben wolle, sich jedoch nicht als politisch ambitionierter Theaterautor verstehe — und das, obwohl er in Strand der Befreiung (das kurz nach der Darmstädter Strohhochzeit in Saarbrücken auf die Bühne kam) das brisante Thema regionalistischer und nazistischer Reaktionen auf den Prozeß der bürokratischen Einigung Europas anklingen läßt. Er habe lediglich Geschichten aus der Region gesammelt, erzählt Fichet, Geschichten über die Hintergründe von Landflucht und sterbenden Dörfern, Geschichten über die Konsequenzen, wie er sie in Strohhochzeit zeigt.

Das einsame Leben in der Region hat den Gefühlshaushalt der Geschwister inzestuös verschoben. Jobloud, der älteste, hat gar ein erotisches Verhältnis zu Pferden. Wenn er am Ende seine Stute Eva meuchelt und den Schöpfer um Gnade anfleht, läßt Fichet mystischen Nebel wabern; in Darmstadt macht man aus Jobloud zudem einen jugendlichen Dränger, der mit der Mistgabel auf die Bühne stürmt, am Zinken das Pferdefleisch, am Munde das tropfende Blut. „Komm mir nicht nahe! Allmächtiger Gott, hab Erbarmen mit mir... Ich hatte eine schöne Stute und habe sie getötet“, sagt er. Bruder Zaac ist Gott sei Dank stumm.

Die Töchter haben es mit der Heirat. Hélène könnte aus einem verkitschten Road Movie auf die Darmstädter Bühne geschlüpft sein, hat sich Mutters Brautkleid angezogen und wartet auf bessere Zeiten, während die Saarbrücker Nicole etwas Frisches und Sprunghaftes hat, Nägel mit Köpfen macht und den deutschen Architekten heiratet, der natürlich Hans heißt.

Wie in Strohhochzeit scheitern die Figuren an ihrer nationalen und familiären Vergangenheit, im Gegensatz zu diesem älteren Stück vermeidet Fichet jedoch mystischen Nebel und entwickelt gar Witz, etwa wenn er die Rolle der Franzosen im zusammenwachsenden Europa karikiert: Für den Franzosen sei jeder Matchgewinn beim Tennis ein Sieg gegen die Barbarei der anderen Nationen, sagt Hans im Stück, der so sympathisch ist, wie ein Deutscher in Frankreich eigentlich nicht sein dürfte. Roland Fichet meint, er habe durchaus das penetrante Überheblichkeitsgefühl der Franzosen gegenüber anderen Europäern aufs Korn genommen, das durch nichts gerechtfertigt sei.

Daß sein Stück über die Spätfolgen der deutsch-französischen Vergangenheit ausgerechnet in Saarbrücken, wo sich das Gallische und Germanische mischen, zum ersten Mal deutschsprachig inszeniert wird, ist kein Zufall. Eine französischsprachige Version war bereits zu sehen, Kai Braak hat sich jetzt der flüssigen Übersetzung von Gerhard Willert angenommen.

Ein Meisterwerk ist auch das 1987 geschriebene Fichet-Stück nicht, in Saarbrückens „Alter Feuerwache“ (ein phänomenaler Theaterraum) schafft man es, sich so weit wie möglich den ewig gestrigen Bretonen zu nähern. Wir sind wieder am Meer, der Strand zieht sich als Rampe durch die gesamte Länge der Halle, die Tische von der Hochzeit stehen noch, und am Ende scheint auch das deutsch-französische Eheglück gerettet.

Weniger zu retten war in Darmstadt, wo Schauspielchef Joachim Johannsen selbst inszenierte. Seit Anfang der Spielzeit sorgt er für durchaus lebendiges Theater, seine erste eigene Regie im Staatstheater jedoch macht eher den Eindruck eines Unternehmens ohne Steuermann. Der Schauspielchef hat auch die Übersetzung von De la Paille pour Mémoire besorgt, bewegte sich aber zu sehr am Wörterbuch entlang und wollte dem teilweise gezierten Sprachduktus der Geschwister mit antiquierter Rede beikommen.

Roland Fichet, der beide Inszenierungen sah, meint, daß die deutschen Regisseure den regionalen Aspekt seiner Stücke stark betonten und den Schauplatz Bretagne in den Mittelpunkt rückten. Aufführungen in Paris und der Bretagne dagegen hätten sich die Freiheit genommen, von den Schauplätzen abzurücken und unter anderem den „poetischen Gehalt“ seiner Stücke herauszuarbeiten. Eine Menge Arbeit steht den deutschen Regisseuren bevor, wenn sie sich auf die Spuren ihrer französischen Kollegen begeben wollen.

Roland Fichet: Strohhochzeit. Regie: Joachim Johannsen. Bühne: Bernd Damovsky. Kostüme: Nicole Geraud. Mit: Alexandra von Schwerin, Timo Berndt, Gregor Weber, Klaus Ziemann. Staatstheater Darmstadt.

Weitere Vorstellungen: 3. Juni und 15. Juni (in Erfurt)

Strand der Befreiung. Regie: Kai Braak. Ausstattung: Walther Jahrreiss. Mit: Wilkit Greuel, Isabelle Archan, Gunter Cremer, Hans-Jürgen Richter, Kurt Ulmann, Renate Böhnisch und Thomas Balou Martin.

Weitere Vorstellungen: 11./16./19./27. und 28.Juni

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