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Die Grube nicht einfach zuschütten

■ Margers Vestermanis über unterbliebene lettische Vergangenheitsbewältigung

„Ich bin weder Ankläger noch Richter. Ich möchte nach den Gründen für den Holocaust in Lettland forschen und ihn verstehen.“ Margers Vestermanis sagt diese Sätze ganz nüchtern, fast zu nüchtern, wenn man um sein Leben weiß. Margers Vestermanis ist einer der letzten überlebenden lettischen Juden. „Ich bin ein alter Mann und wie alle alten Männer trage ich einen unsichtbaren Buckel mit mir herum“, sagt er. „Das ist meine Vergangenheit.“ Und wenn er das sagt, klingt es beinahe wie Koketterie. Aufrecht stehend, in klaren deutschen Sätzen referierte er am Dienstagabend auf einer Veranstaltung des Ev. Bildungswerkes in Bremen über „Das Problem der Verantwortung — Der Judenmord in Lettland“.

Von 75.000 lettischen Juden haben keine tausend überlebt. Dazu kamen 60.000 westliche Juden, darunter 18.000 aus Deutschland. Knapp 200 der vor

hier bitte den alten

Mann, der nach vorne

guckt

allem nach Riga deportierten deutschen Juden haben das Kriegsende erlebt. Ein Satz der im Raum gefriert: „In Auschwitz war der Prozentsatz der Überlebenden viel höher.“ Wer trägt dafür die Verantwortung? „Das ist mein Thema“, sagt Vestermanis. Und damit hat er sich in Riga zum Außenseiter gemacht, denn er stellt die Frage nicht primär an die Deutschen Besatzer, sondern an die lettische Adresse.

Nach der Besetzung durch die deutschen Truppen erlebte Lettland einen nie gekannten „Blutrausch“. In den ersten sechs Monaten wurden 12.000 Menschen ermordet, und zwar nicht vom deutschen Militär, sondern vom lettischen „Selbstschutz“. Das Morden ging so weit, daß es selbst den Deutschen zu viel wurde. Aus der Berliner Gestapo-Zentrale kam das Telegramm, so ginge das auch nicht und die deutschen Ordnungskräfte sollten eingreifen.

Warum habe in den ersten Jahre so viele Letten beim Morden nicht nur einfach mitgemacht, sondern selbst die Initiative ergriffen? Jahrhundertelang haben sich die Letten immer in der Opferrolle wiedergefunden. Die kurze Zeit der Selbständigkeit hatte den Minderwertigkeitskomplex noch nicht behoben. Nun, mit dem deutschen Einmarsch, gab es nur eine Chance, das soziale Geltungsbedürfnis zu befriedigen: Die Deutschen würden siegen und diesmal wollte man auf der Seite der Sieger sein. „Das Volk war moralisch zusammengebrochen. Es hatte den Terror von drei Revolutionen und einem Weltkrieg hinter sich, der alle Schichten brutalisiert hat.“ Eines fügt sich zum anderen, Minderwertigkeitskomplexe und Brutalisierung: „Die einzige Chance, sich den Deutschen erkenntlich zu zeigen, war der Judenmord.“

Das heutige Lettland hat sich die Unabhängigkeit erkämpft. Doch so wie das Thema der Judenmorde in der Sowjetzeit Tabu war, so ist es noch heute ein Tabu. Margers Vestermanis baut mit Hilfe des Jewish Memorial Culture Foundation in New York ein jüdisches Dokumentationszentrum auf gegen das Vergessen. „Ich bin kein Richter“, sagt er, „ich will nur die Menschenwürde der Toten wiederherstellen. Man darf die Grube nicht einfach zuschütten.“ J.G.

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