: Dänisches „Nein“ treibt Keil in EG
Rückenwind für AntiföderalistInnen/ London will Macht der Kommission einschränken ■ Aus Brüssel Michael Bullard
Das Volk, auch das deutsche, sei nicht europäisch genug gesinnt, weiß der Bundeskanzler. Um das Manko zu beheben und Ausrutscher wie das dänische „Nein“ zu den Maastrichter Verträgen in Zukunft auszuschließen, müsse die Aufklärung verstärkt werden, sagte er in einem Rundfunkinterview. Mit dieser Forderung steht Helmut Kohl nicht allein. Auch EG-Kommissionschef Jacques Delors glaubt, mit Information das fehlende Verständnis der BürgerInnen für ein großes Europa überbrücken zu können.
Seit dem Debakel in Dänemark ist man in den EG-Hauptstädten um demonstrative Einigkeit bemüht: Die in Maastricht ausgehandelten Verträge zur europäischen Union müßten bis Ende des Jahres zumindest von den elf verbleibenden Ländern ratifiziert sein. Auch wenn die Parlamente damit ihre weitere Entmachtung unterschreiben.
Doch der Konsens in den Machtzentren der EG über das weitere Vorgehen ist nur vordergründig. Mit ihrem Votum gegen Maastricht haben die Dänen einen seit Jahren schwelenden Streit in der EG neu aktiviert: Soll die EG ein Staatenbund bleiben oder ein Bundesstaat werden? Nicht die Reintegration Dänemarks in die Gemeinschaft steht im Mittelpunkt der jetzigen Auseinandersetzungen, sondern die Frage der Machtverteilung. Wer soll von dem im Maastrichter Vertrag angelegten Machttransfer nach oben profitieren? Die EG-Kommission, die nach Ansicht ihres Chefs die Keimzelle einer zukünftigen Gemeinschafts-Regierung darstellt, oder die Mitgliedsregierungen. Letztere haben sich in den letzten 35 Jahren weitgehend von den Kontrollen durch Parlamente und Regionalregierungen befreit. In Maastricht wurde diesem Prinzip auf Drängen von Spanien und Großbritannien erneut gehuldigt. Auf dem Zenit ihrer Macht angekommen, zögern die meisten Regierungen, sie der EG-Behörde zu übergeben.
Wortführerin der Anti-Föderalisten ist die britische Regierung, die die Gunst der dänischen Stunde sogleich zu nutzen wußte. Mit einer Zusatzverfügung zu den Maastrichter EG-Verträgen will Außenminister Douglas Hurd jetzt den Dänen doch noch ein „Ja“ zur politischen und Wirtschafts- und Währungsunion ermöglichen, ohne daß die Verträge neu verhandelt werden müssen. Ziel: Die Zusatzklausel soll die Macht der EG-Kommission einschränken. Der Vertragszusatz werde das Prinzip der „Subsidiarität“ konkretisieren. Der Zungenbrecher besagt, daß Entscheidungen auf möglichst niedriger politischer Ebene getroffen werden müssen. Beschlüsse sollen nicht in Brüssel getroffen werden, wenn sie auch von den nationalen Parlamenten getroffen werden könnten.
Als unverbindliche Zusatzklausel ist der Schachzug Hurds wenig ergiebig. Erst als integrierter Teil der Verträge trägt die Klausel die Möglichkeit der völligen Entmachtung der EG-Kommission und damit Delors in sich. Deshalb werten Beobachter Hurds Äußerung als Hinweis, daß die britische Regierung später im Jahr, wenn sie die EG-Ratspräsidentschaft innehat, eine Neuverhandlung der Maastrichter Verträge fordern wird. Vorsorglich lehnte der britische Schatzkanzler Norman Lamont schon jetzt die von Delors geforderte Erhöhung des EG-Haushaltes um 170 Milliarden Mark im Jahr ab. Nicht nur darin scheint sich die britische mit der deutschen Regierung einig zu sein: In Bonn soll auch die Idee, die Macht der EG-Kommission einzuschränken, auf offene Ohren gestoßen sein.
Bedeuten diese Attacken das Ende von EG-Superstar Delors? Wenn die zwölf Staats- und Regierungschefs in zwei Wochen zu ihrem halbjährlichen Gipfel in Lissabon zusammenkommen, werden sie auch über die Zukunft des EG-Präsidenten sowie seiner Mann- und Frauschaft entscheiden müssen. Delors zweite Amtszeit läuft Ende des Jahres aus. Man wird sie wohl bis 1995 verlängern — nicht in Ermangelung eines geeigneten Nachfolgers, sondern auch, um dem Ansehen des EG-Projekts nicht noch mehr zu schaden.
Will man aber Delors behalten, muß man ihn bei Stimmung halten— eine Entmachtung, wie die Briten sie sich vorstellen, ist also unwahrscheinlich; ebenso allerdings ein Machtzuwachs für die Kommission, wie ihn Delors fordert, trotz der Unterstützung durch den französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand. Dieser lehnt den britischen Vorschlag ab. Die EG-Verträge sollen so wie sie in Maastricht unterzeichnet wurden, ratifiziert werden. Allerdings übernimmt Großbritannien am 1. Juli für sechs Monate den EG-Vorsitz. Delors Zukunft ist unter diesen Bedingungen nicht allzu rosig. Resultat: Ein Patt, von dem in erster Linie die Regierungen profitieren. So gesehen ist das Votum der Dänen nach hinten losgegangen. Statt eine Zentralisierung zu verhindern, haben sie die Entdemokratisierung stabilisiert.
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