Gewitter überm arktischen Idyll

Am Ende der Welt, im Nordwesten Skandinaviens, wecken die Maastrichter Verträge zur Union Europas böse Erinnerungen an einstige Fremdbestimmung/ Ein Besuch bei Bauer Olav Bakke im nordnorwegischen Alta  ■ Von Dorothea Hahn

Das schwarze Kabel kommt unter dem Schuppen neben dem hölzernen Wohnhaus hervor. Zwischen Schneeflecken schlängelt es sich in den Garten, um ein paar Meter weiter in einem gläsernen Gewächshaus zu verschwinden. Hier mündet es in einen Heizlüfter, der auf dem aufgeweichten Boden brummt. Während draußen eisiger Wind über die Glaswände streicht, treibt die Hitze in dem kleinen Raum Schweiß aus den Poren. In den dicht an dicht aufgestellten Blumentöpfen sprießen die ersten großen Blätter.

Olav Bakke steht in hohen Arbeitsschuhen und wattierter Jacke vor seinem gläsernen Garten Eden. Auch diesen Sommer will der Mittsechziger mit dem wettergegerbten Gesicht und den feingliedrigen Händen die arktische Natur wieder mit ein wenig Strom und viel Pflege überlisten.

400 Kilometer nördlich vom Polarkreis, und zwei Autostunden vom Nordkap entfernt ist die Radieschen- und Salatzucht in der Kleinstadt Alta harte Arbeit. Seine Tomaten muß Bakke „praktisch einzeln“ aufpäppeln. Auch nach den Erdbeeren muß der Bauer Dutzende Male sehen. Dennoch wird er am Ende der Saison nicht viel aus seinem Gewächshaus holen. Und billig wird es auch nicht. Auf dem Markt in Oslo kosten Bakkes Tomaten das Kilo 100 norwegische Kronen — beinahe 25 D-Mark. Aber Bakke wird sein Grünzeug immer los. Die StädterInnen im Süden des Landes kaufen aus Tradition „norwegisch“. Schon als Schulkinder lernen sie, daß die eigenen Produkte besonders gut sind und daß die arktischen Landwirte auf ihre Unterstützung angewiesen sind. Hinzu kommt, daß die ausländischen Alternativen in den Regalen nicht attraktiver sind — auch das importierte Gemüse ist sündhaft teuer.

Mit wenig Strom die Natur überlisten

In diesen letzten Maitagen werden zwischen den Holzhäusern der 8.000-Seelen-Gemeinde Alta die zusammengeschobenen Schneereste grau. Auf den Äckern kommt die dunkle Erde zum Vorschein. Nur die felsigen Berge ringsum haben noch eine Schneeschicht, die herabreicht bis zum Ufer des Alta-Fjords.

Kahl und nackt ragen die Bäume in die Luft. Möwenschreie durchschneiden gelegentlich die Stille. „In wenigen Tagen kann man das hier nicht wiedererkennen“, schwärmt Bakke und macht dazu eine ausladende Armbewegung von seinem Kuhstall über das wenige hundert Meter entfernte Alta bis hin zum Fjord. „Dann wird alles grün. Und überall werden Vögel zwitschern.“

Die Mitternachtssonne scheint von nun an bis weit in den Juli hinein. Sie sorgt dafür, daß alles nachts und somit doppelt schnell wächst. Man kann jetzt zugucken, wie sich die Blätter entfalten. In Alta heißt das: „Die Natur explodiert.“

Auch die Menschen müssen den kurzen arktischen Sommer intensiv nutzen. Bakke und seine KollegInnen werden mit der Feldarbeit beginnen, sobald der Boden ganz aufgetaut ist. Sie setzen Kartoffeln und bauen Futter für ihr Vieh an. Sonst wächst hier oben nicht viel. Für mehr reicht die Zeit auch nicht.

Subventionen aus Oslo gegen Verwaisung

Bakkes Saatkartoffeln liegen jetzt noch bei Kunstlicht zum Keimen im Keller. In dem Stall darüber warten seine 20 Kühe und noch einmal so viele Kälber auf den Sommer. Drei Monate lang wird er sie dann täglich auf die Weide heraustreiben.

Bakkes Tochter und der Schwiegersohn stehen in dem Kuhstall und bedienen den Maschinenpark. Das Futter — „alles biologisch angebaut“, sagt Bakke — kommt über ein elektrisches Laufband aus dem benachbarten Silo. Jede Kuh erhält ihre computerermittelte Tagesration. Am Ende des Stalls saugt ein dickes Rohr die warme Luft ab. Sie wird komprimiert und in das einige Schritte entfernte Wohnhaus geleitet. Auch bei draußen 20 Grad unter Null hat Bakke es warm.

Erst in den sechziger Jahren sattelte Bakke vom Handel auf die Landwirtschaft um. Ein wichtiges Argument für den Berufswechsel waren die Subventionen aus Oslo. Um zu verhindern, daß sich die dünn besiedelten Provinzen jenseits des Polarkreises und im Grenzgebiet zur ehemaligen Sowjetunion gänzlich entvölkern, betreibt die Regierung eine kostspielige Regionalpolitik. In jedem arktischen Landwirtschaftsprodukt steckt Geld aus diesem Fonds. Auch LehrerInnen und ÄrztInnen, die sich in diesem nördlichsten von Menschen bewohnten Gebiet niederlassen, bekommen Sonderleistungen. Alle fünf oder sieben Jahre können sie einen einjährigen bezahlten Urlaub nehmen.

„Ohne die Subventionen könnten wir hier alles dichtmachen“, sagt Bakke. Mit dem Geldsegen aus der 2.000 Kilometer entfernten Hauptstadt, der dank der norwegischen Erdölvorkommen fließen kann, hat sich die traditionell arme Region stabilisiert. Die Ansiedlung einer Universität Anfang der siebziger Jahre in Tromsö brachte sogar neues Leben in den hohen Norden. Nach jahrhundertelangem Elend stieg der Lebensstandard der Fischer und BäuerInnen auf das Niveau der StädterInnen im Süden an. Die Menschen an den Enden der Fjorde und in den wenigen Städten mit mehreren tausend EinwohnerInnen schöpften neue Hoffnung — und blieben.

Doch neuerdings ziehen Gewitterwolken über dem arktischen Idyll auf. Die Umwälzungen im restlichen Europa haben Skandinavien eingeholt. Ganz deutlich zeigt sich das an der Liebäugelei der Nachbarländer mit Brüssel. Schweden klopfte als erstes Land bei der Europäischen Gemeinschaft an, die finnische Regierung ist kurz davor. Als letzte vor den Toren der EG könnten am Ende nur Island und Norwegen übrigbleiben.

„Wir wollen hinein“, steht klipp und klar in einem von der linken Tageszeitung 'Klassenkampen‘ veröffentlichten „geheimen“ Strategiepapier der norwegischen Arbeitgeberverbände. Allerdings müsse die Gemeinschaft auch norwegische Fertigprodukte akzeptieren.

In internen Schulungen klären GewerkschaftsfunktionärInnen ihre Mitglieder über die Notwendigkeit einer europäischen Arbeiterbewegung auf. „Wir müssen hinein, um zu verhindern, daß ganze Industriezweige in Norwegen dichtmachen und in die Gemeinschaft abwandern“, erfahren die TeilnehmerInnen da. Beim Besuch in Dänemark erklärt die norwegische Regierungschefin Brundtland, wie wichtig eine EG-Mitgliedschaft für ihr Land sei. Das Referendum über die Maastrichter Verträge im Nachbarland wird behandelt, wie eine innenpolitische Angelegenheit.

Maastrichter Verträge sind politischer Zündstoff

Norwegen ist im EG-Fieber. Das Thema beherrscht die Kneipengespräche. Es füllt die Titelseiten der Tageszeitungen und sorgt für hitzige Diskussionen in dem skandinavischen Land. Nur das offizielle Oslo hält sich noch zurück. Den PolitikerInnen sitzt der Schock von 1972 noch tief in den Knochen. Damals hatte die Regierung schon einmal Beitrittsverhandlungen geführt. Von den großen Parteien über die Gewerkschaften bis hin zu den ArbeitgeberInnen hatte sich das gesamte politische Establishment für ein Ja ausgesprochen. Doch die GegnerInnen waren überall. Der Streit spaltete die Basis der Parteien in feindliche Lager. Er ging quer durch Familien. Ein breites Bündnis von 68erInnen, Fischern und BäuerInnen bündelte die Stimmen gegen die Gemeinschaft.

Bei der Volksabstimmung erlitten die BefürworterInnen eine schwere Schlappe. Danach war nichts mehr wie zuvor. Rechts und links des traditionellen politischen Spektrums entstanden neue Parteien, die gleich bei den ersten Wahlen starken Zulauf erhielten. Plötzlich überzog Mißtrauen das Land. Der Polarkreis markierte die Scheidelinie. Nördlich davon stimmten die meisten Gemeinden mit über 90 Prozent gegen den Beitritt.

„Plötzlich überzog Mißtrauen das Land“

Zwanzig Jahre danach hat sich das norwegische Szenario kaum verändert. Diesmal haben sich die großen Organisationen und Parteien noch gar nicht öffentlich bekannt. Wie das Kaninchen auf die Schlange starren sie auf die täglich neu veröffentlichten Meinungsumfragen. 47 Prozent der NorwegerInnen haben sich demnach schon für ein Nein zum Beitritt entschlossen, der Rest schwankt zwischen Ja und Unentschieden. Wieder sind es die Fischer, die fürchten, daß die hochgerüsteten Fangflotten aus Südeuropa über die norwegischen Schwärme herfallen werden. Immer noch haben die BäuerInnen Angst, ihre prekäre wirtschaftliche Existenz könnte dem Beitritt zum Opfer fallen. Und weiter wehrt sich die Intelligentzija gegen die undemokratische Gemeinschaftspolitik und den befürchteten Souveränitätsverlust Oslos an Brüssel. Neu hinzugekommen ist die Furcht vor der „politischen Union“, von der die EG-PolitikerInnen seit Maastricht soviel reden. Das Wort „Union“ weckt im Nordwesten Skandinaviens unliebsame Erinnerungen an Fremdbestimmung. Erst 1905, nach vier Jahrhunderten erzwungener Unionen mit Dänemark und Schweden, errang Norwegen seine Eigenstaatlichkeit.

100.000 Mitglieder zählt die „Nein zur EG-Bewegung“ in dem Vier-Millionen-EinwohnerInnen- Land. Die BefürworterInnen in der „Europäischen Bewegung“ haben dagegen nur 10.000 Namen in ihrer Kartei. Während SozialdemokratInnen und Konservativen die AnhängerInnen davonlaufen, kann die entschieden gegen die EG votierende grün angehauchte bäuerliche „Zentrumspartei“ Zuwächse verzeichnen.

Dabei ist von einer Volksabstimmung noch gar nicht die Rede. Fest steht nur, daß die Regierung sich gerne an den schwedischen und finnischen Verhandlungen mit der EG beteiligen würde. Wenn deren Ergebnis, wie erwartet, in zwei Jahren vorliegt, könnte es frühestens Mitte des Jahrzehnts erneut zu einer Volksabstimmung über den Beitritt kommen.

Bakke hat sich die Argumente der GegnerInnen zu eigen gemacht. „1972“, sagt er, „war ich noch nicht bewußt genug.“ Natürlich hat er wie die meisten EinwohnerInnen Altas damals mit Nein gestimmt“. Aber richtig ins Thema eingestiegen ist er erst in den vergangenen Monaten. Das Mißtrauen gegen die Regierung in Oslo hat ihn im Eigenstudium zum EG-Experten gemacht. Zudem weiß er über die „unsinnige Agrarpolitik“ der Gemeinschaft Bescheid. Bei einem Besuch in Belgien habe er selbst gesehen, „daß ein EG-Bauer riesige Maschinen anschaffen und enorme Flächen bewirtschaften muß, um bei dem niedrigen Kartoffelpreis auf einen grünen Zweig zu kommen“.

Die gerade abgeschlossenen Verhandlungen mit der EG über einen gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum hat Bakke argwöhnisch verfolgt. Die norwegischen BürokratInnen seien zurückgekehrt wie „Deppen“. „Sie haben es nicht einmal geschafft, Exportmöglichkeiten für hier verarbeitete Fischprodukte auszuhandeln. Wir dürfen weiterhin nur Rohfisch exportieren“, schimpft er.

„Unions-Beitritt macht alles kaputt“

„Oslo ist weit, aber Brüssel ist weiter“, ist ein Lieblingssatz von Bakke. Wenn er in der Altas Lokalzeitung schreibt, daß nach dem Beitritt die Subventionen gestrichen würden und „hier oben alles Leben kaputtgeht“, bekommt er oft Telefonanrufe von entlegenen Gehöften. In langen Gesprächen erzählen die AnruferInnen ihm, wie es früher war, bevor die Hilfe aus Oslo einsetzte. In jener dunklen Zeit kamen kaum noch LehrerInnen in den Norden, stand das wirtschaftliche Überleben jedes Jahr erneut auf dem Spiel, gehörte der Gedanke an die Emigration stets zum Alltag. „Wir befürchten, daß so etwas hier oben wieder passieren könnte, wenn Norwegen in die EG eintritt“, sagt Bakke. Schließlich dürfe kein EG-Mitgliedsland allein über seine Subventionspolitik entscheiden. Das verzerre die europäischen Wettbewerbsbedingungen. Brüssel aber, so glaubt Bakke, wird kein Interesse daran haben, das nötige Geld nach Nordnorwegen zu pumpen, um es am Leben zu halten. Weder sei die Region so unterentwickelt wie der Süden Italiens oder Portugals noch sei Nordnorwegen ein dicht besiedeltes strukturschwaches Gebiet. „Oder sollen wir erst verarmen, um dann in Brüssel betteln zu gehen?“

Wenn PolitikerInnen wie Ministerpräsidentin Brundtland und Außenminister Stoltenberg jetzt warnen, Norwegen drohe eine völlige Isolierung in Europa, dann erinnert das Bakke an 1972: „Diese Untergangsprognosen gab es damals auch schon. Daraus ist nichts geworden.“ Auch das zweite Schlagwort der BefürworterInnen — der internationale Handel — will ihm nicht einleuchten. Sicher wickele Norwegen 60 bis 70 Prozent seiner Exporte mit der EG ab. Aber wenn das Land erst seine Handelsschranken für die Erzeugnisse aus der EG aufmachen müsse, würden sich viele umgucken. Schließlich produzierten nicht nur die norwegischen BäuerInnen, sondern auch die Industrien im Süden des Landes teurer als der Rest Europas. Bei aller Liebe zu Norwegen: die VerbraucherInnen in Oslo würden dann vermutlich doch zu den billigeren Waren aus der EG greifen.

„Erst verarmen, dann Brüssel anbetteln?“

Bakke hält sich angesichts der Diskussion um einen Beitritt lieber an bewährte skandinavische Muster. „Europa“, das ist für ihn eine Sache der Großen. Eine gute Idee im übrigen, deren Nutzen für andere Länder er gar nicht abstreiten mag. Aber das kleine Norwegen sollte sich da raushalten. Im schlimmsten Fall könne sich sein Land mit Island zusammentun. Eine solche Allianz der Fischer- Nationen hätte sicher Zukunft, denn: „Fisch braucht Europa immer.“

Doch so weit wird es nach Bakkes Ansicht gar nicht erst kommen. Mit seinen KollegInnen vom Finnmarker Bauernverband spricht er oft über den wachsenden Widerstand der anderen skandinavischen Länder gegen die EG. So wie jetzt in Dänemark. Oder in Schweden, wo sich gerade zwei Provinzen als „EG-freie Zonen“ proklamiert haben. Mit denen könnte sich Bakke schon eher eine Zusammenarbeit vorstellen. Das seien auch Länder mit viel Verständnis für den Drang nach Unabhängigkeit.

„Am Ende werden wir so weitermachen wie bisher“, hofft Bakke. Und das meint der arktische Landwirt positiv. Schließlich weiß er genau, warum er in der Finnmark geblieben ist, den langen, dunklen Wintern zum Trotz. Er weiß auch, warum er jedes Jahr aufs neue die mühsame Kleinarbeit für die paar Zentner Kartoffeln beginnt.

Er stapft über sein verschneites Feld dem Sommer entgegen und sagt: „Dies ist ein Paradies: sauber, kalt und klar.“