piwik no script img

»Wir haben auch unseren Stolz«

■ Tausende von BerlinerInnen demonstrierten gegen geplante Mieterhöhungen

Berlin. Sonnenschein und strahlend blauer Himmel — das ideale Wetter, um nach der Arbeit noch baden zu gehen. Sollte heute der Bundesrat die zweite Mieterhöhung für Ostdeutschland beschließen, wird wohl auch vielen BerlinerInnen nichts anderes übrigbleiben, als im wahrsten Sinne des Wortes »baden zu gehen«. Aus diesem Grund hatte das Prenzlberger Aktionsbündnis W.B.A. — »Wir bleiben alle« — am Mittwoch zu einer Demo vor dem Roten Rathaus aufgerufen Der Aufforderung waren nach Angaben von W.B.A. mehr als 10.000 BerlinerInnen gefolgt.

Die weißhaarige 83jährige Gertrud Dembowski, die für ihre Zweizimmerwohnung jetzt mehr als das Dreifache zahlen muß, obwohl sich ihre Rente im Verhältnis dazu nicht einmal verdoppelt hat, ist eigens aus Adlershof gekommen, um gegen den Gesetzentwurf des Bundesbauministerums zu demonstrieren. Der Entwurf sieht vor, daß die Mieten in Ostdeutschland ab Januar 1993 um bis zu 2,10 Mark pro Quadratmeter steigen können. Im Gespräch mit der taz sagte sie: »Wir müssen mehr auf die Straße gehen, damit die merken, wir haben auch unseren Stolz. Wir lassen uns nicht wie Sklaven behandeln.«

Die überwiegend sehr jungen Sprecher des W.B.A. brachten den Unmut und die Bereitschaft der DemonstrantInnen zu kämpfen deutlich zum Ausdruck: »Man muß und kann sich wehren. Wir müssen den Widerstand verstärken.« Oft sind es Einzelschicksale, die die allgemeine Lage zum Ausdruck bringen. So auch die vor achtzig Jahren im Prenzlberg geborene und seitdem dort lebende Frau Boernsch, die, gestützt auf zwei Krücken und gehalten von zwei jungen Männern, ohne Angst vor den vielen Mikros und Menschen mit fester Stimme ihre Angst zum Ausdruck brachte: »Ich habe nicht nach Feierabend und nach der Rente noch hart gearbeitet, um mich jetzt vertreiben zu lassen.« Dann versagte ihre Stimme, und bei dem Gedanken, ihren geliebten Kiez verlassen zu müssen, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

Auch der Maurer Helmut Reimann aus dem Prenzlberg, der am Tag der Demonstration fünfzig Jahre alt wurde, sah keinen Grund zum Feiern: »Wir sind so einverleibt worden, daß wir uns schon schämen. Freiheit ist ein Recht auf Arbeit und Wohnung.« Seinem »Wir sind das Volk«-Ruf schlossen sich die Versammelten lautstark an.

Ob das »Volk« weiterhin entschlossen um seine Rechte kämpfen wird, wird sich am 15. Juli zeigen. An diesem Tag haben die neuen »Bewohner« des ältesten Hauses in Prenzlauer Berg in die Kastanienallee 77 zu einem offenen Straßenfrühstück eingeladen. Am 9. September geht's dann vom Roten Rathaus zum Ku'damm. Barbara Bollwahn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen