: Zwischen eins und zwei
■ »Unkonventionelle Musikstile« im Tacheles. Erstes Beispiel: Rainer Theobald
Viele sagen, das zwanzigste Jahrhundert sei das Jahrhundert der Serie. Da gab es Arnold Schönberg mit seinen Zwölfton-Serien, die Reihungen der Arte Povera, die Serienherstellung am Fließband. Und die Konzertserien eben. Mit einer neuen, »unkonventionellen Musikstilen« gewidmeten Dienstagsserie beglückt nun auch das Tacheles.
Dienstag abend eröffnete das Jazz-Duo mit Rainer Theobald an Saxophon und Klarinette und dem Schlagzeuger Jason Kahn den klingenden Reigen. Allerdings mußte, wer in Genuß dieser Musiker kommen wollte, schon etwas ausharren; Jazzmusiker lieben eben die Verspätung, und was um zehn Uhr abends angekündigt ist, kann also nicht vor elf beginnen. So blieb nichts anderes, als mir von einem auf dem Nebensitz wartenden Theaterregisseur seine Kategorien zur Musikbeurteilung erklären zu lassen. Ist er »einfach weg«, so ist es Kategorie eins, Kategorie zwei inspiriert ihn zu eigenen Projekten und Kategorie drei ist halt Mist. Rainer Theobald, sagt er mir nach dem Konzert, pendelt zwischen Kategorie zwei und eins. So einfach sind Theaterwelten. Und trotzdem bisweilen gar nicht so falsch.
Rainer Theobald jedenfalls erscheint dann doch noch auf der Bühne, bittet um Ruhe und beginnt seelenruhig auf seiner Klarinette ein ostinates Riff aufzubauen, von dem er sich allmählich los und frei spielt. Erstaunlich ist sofort sein Ton, der dem Giora Feidmans in nichts nachsteht, vielleicht gar von selbigem inspiriert ist. Dann werden seine Linien immer kantiger, immer verrückter, flirren sich überschlagend in hohe Register, fangen sich wieder. Inzwischen ist längst Jason Kahn am Schlagzeug eingestiegen und legt ein pulsendes Feld unter, schlägt geschickt Breaks in die Atempausen des Bläsers, kommentiert die Eckpunkte der Melodielinien oder konterkariert einfach. Als die Klarinette ob ihres beschränkteren Lautstärkevolumens nicht mehr reicht, greift Rainer Theobald zum Altsaxophon, spielt dessen Eleganz und Schnelligkeit aus und zitiert — da kommt auf diesem Instrument wohl kaum einer drumrum — Charlie Parker. Aber es bleibt eine Facette im Vorbeifliegen, wird nur angehuscht; der Höhenflug, der so brav mit dem Klarinettenriff startete, hält an, will immer noch weiter hinaus, bis es auch das Altsaxophon nicht mehr tut, und der Tenorbruder hinzu muß. Da beginnt dann die Musik, seit wohl einer geraumen halben Stunde stetig an Energie zunehmend, ihrem Kulminationspunkt entgegenzutreiben. Souverän verfügt Rainer Theobald auch auf diesem Instrument über die Jazzgeschichte, verfängt sich aber nicht darin. Coltranesche Flugphrasen und Albert Aylersche Saxophoneschreie stehen verträglich nebeneinander.
Plötzlich ist die Musik zu Ende. Zwei-, dreimal klingt noch das Klarinettenriff des Anfangs an, lügt keinen Zusammenhang vor, der nicht dagewesen wäre. Statt dessen: ein phantastischer, über halbstündiger Aufbau. Jason Kahn hat da immer brav mitgehalten.
Rainer Theobald ist der beste Saxophonist, den ich seit langem in dieser Stadt zu Ohren bekommen habe, scheint er doch zu den raren Musikern gehören, die die Fähigkeit besitzen, Free-Jazz noch authentisch zu empfinden, ihm von innen heraus Leben zu geben.
So streite ich mich im Hinausgehen mit meinem Theaterregisseur nur noch, ob der junge Musiker nun leider zwanzig oder dreißig Jahre zu spät dran ist. Aber auch das entscheidet nichts, statt dessen kann man sich nach diesem gelungenen Beginn auf weitere Dienstage im Tacheles freuen. Und das auch noch bei freiem Eintritt. Walter Kowalski
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