KOMMENTAR: Nagelprobe ohne Folgen
■ Mehr als 2.000 Neonazis marschierten durch Rudolstadt
Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten, so verkündete letzten Donnerstag Innenminister Seiters bei der Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichtes, sei 1991 gegenüber dem Vorjahr um 500 Prozent gestiegen, und dieser Trend habe sich in diesem Jahr fortgesetzt. Die Zahlen des Bundeskriminalamtes lagen zwar noch weit darüber, doch Seiters konnte auch bei den geschönten Daten der Verfassungsschützer nicht umhin, die Entwicklung als „besorgniserregend“ einzustufen.
Drei Tage später stehen die Sicherheitsbehörden beim Aufmarsch der militanten Neonazi-Szene zum Gedenken an den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß vor einer Nagelprobe. Gerichte verbieten zwar den Aufmarsch, doch mehr als 2.000 Neonazis können ungehindert im thüringischen Rudolstadt marschieren. Obwohl der Treffpunkt der Neonazis am Hermsdorfer Kreuz spätestens in der Nacht zuvor bekannt war, war dort nur die lächerliche Kleinigkeit von vierzig Beamten stationiert. Sichtbar — und darauf kommt es an, wenn es zum Beispiel um die Sicherheit ausländischer Touristen und Fernfahrer geht — war meist nur ein Streifenwagen. Was nützt aber ein von den Gerichten mit viel Mühe ausgesprochenes und begründetes Versammlungsverbot, wenn es dann nicht durchgesetzt wird?
Ein Verbot kann zwar das Problem des Rechtsextremismus sicher nicht lösen. Doch gerade solche Aufmärsche wie alljährlich am Todestag von Rudolf Heß haben für die neonazistische Szene einen hohen Wert. Ihnen geht es nicht nur darum zu beweisen, wem in diesem Land die Straßen gehören. Mit solchen zentralen Aufmärschen überwinden sie Organisationsegoismen, knüpfen neue Kontakte sowie Bündnisse und rekrutieren über diesen Stärkebeweis neue Sympathisanten. Inhaltlich geht es ihnen zudem um nichts anderes als um die Rehabilitierung des Nationalsozialismus. Der Rudolf-Heß-Marsch ist daher eingebettet in eine breit angelegte Kampagne des Geschichtsrevisionismus. Sollen dafür demokratische Mittel zur Verfügung stehen?
Die Durchsetzung des Verbots solcher Aufmärsche kann durchaus ein Instrument zur Bekämpfung des Rechtsextremismus sein. Den Sicherheitsbehörden geht es aber letztlich nicht so sehr um den Rechtsextremismus. Trotz des Abgesangs der RAF und des Rückzugs der Revolutionären Zellen konstatierte Seiters unbeirrt eine „beachtliche Gefahr“, die von „linksterroristischer“ Seite ausgehe. Die antifaschistischen DemonstrantInnen wurden zum Beispiel vom Ordnungsamt der Stadt Bayreuth als „Linksterroristen“ gebrandmarkt. Damit begründete die Wagner-Stadt auch ihr Kundgebungsverbot.
Die genehmigte Demonstration von AntifaschistInnen in Hof wurde dann von starken Polizeikräften begleitet. Sondereinsatzkommandos konnten es nicht lassen, zu provozieren und letztlich mit brachialen Mitteln einzugreifen. In Rudolstadt gelang es militanten Neonazis, ihren verbotenen Marsch ungestört von irgendwelchen Polizeiaktivitäten durchzuführen. Hier muß sich Thüringens Skandal-Innenminister Willi Böck schon den Vorwurf der Unterstützung rechtsterroristischer Kreise gefallen lassen. Bernd Siegler
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