Selbstfindungsexzesse

Die Haut spielte mit Gästen zum zehnjährigen Bestehen der Band im Berliner Tempodrom  ■ Von Harald Fricke

Auch in Deutschland gehört der Untergrund der Vergangenheit an. Nur wenige Bands haben zwischen Punk und Techno durchgehalten, wobei es ihnen zumindest an ideologischem Beiwerk zu keiner Zeit gemangelt hat. Im Land der Chefdenker und Diskursmacher lag stets eine verheißungsvolle Formel bereit. Zuletzt hatte Diederich Diederichsen ein Underground-Apriori in „Sexbeat“, seinem autobiographischen Selbst(und andere)-Findungsessay von 1984, entdeckt, mit dem sich die Szene beschreiben ließ: „Bohemia, das ist das Land, in dem nichts stillsteht.“ Plötzlich war Bohemia dann ausgestorben, und die Nachtcafés blieben leer. Fitneß-Studios und Diskotheken ersetzten diese Orte. Das Volk hatte ganz einfach den Glauben an seine Helden verloren und statt dessen eine Familie gegründet. Oder eine Gang. Diederichsen schrieb derweil das Vorwort zur Geschichte des HipHop.

Von der Verbindlichkeit der Als- Anti-immer-auch-Pophaltung ist außer Gruppen wie Die Haut scheinbar nicht viel übriggeblieben. Seltsamerweise hat sich aber gerade die Berliner Instrumentalkombo vom Lob-, später dann Trauergesang des Neo-, New- und No Wave nicht berühren lassen. 1982 gegründet, standen die vier Musiker immer leicht zurückgelehnt am Rande der Berliner Krach- und Besetzerszene. Ihre Single „Der karibische Western“ war ein Zeichen für die ersten Auflösungserscheinungen der harten Kader. Die Musik vermischte sich mit Unwägbarem. Die Platte vereinigte eine Surfmelodie der Sixties mit dem elegischen Pathos einer Westernsymphonie von Ennio Morricone. Die Haut hat seitdem ihren Weg recht zielstrebig mit Soundtracksplittern und harscher Gitarrenführung gesucht. Auf „Die Hard“, dem Album von 1990, bündelten sie die Musik zu Hitchcocks „Psycho“-Filmphantasie in einem Drei-Minuten-Epos, halb Metal, halb nervöses Experiment fiepender Obertonketten. Horror in Pillenform. Mit der radikalen Schlacht um die Klassiker trat die Veränderung in der Szene offen zutage. Man hatte Schwierigkeiten mit der eigenen bürgerlichen Geschichte, ohne aber gleich den persönlichen Ängsten nachgehen zu wollen. Statt Thomas Mann wurde weiterhin Hubert Selby gelesen.

Die Geste der Selbstzerfleischung und des planlosen Verschwendens wich einer urbanen Romantik, wie sie bei Jarmusch oder Amos Poe in ihren frühen Super-8-Filmen dargestellt wurde: der Mensch als Hinterhofmonade, dem das Spiegelbild abhanden gekommen ist. Die Klischees sind der Band bis heute nicht von der Seite gewichen. Die Haut trägt Anzüge im Stil der kolumbianischen Kokainmafia und pflegt einen merkwürdigen Internationalismus, der sie zwischen Berlin und New York pendeln läßt. Sie verkörpern Geld, das sie nicht haben.

Strategisch ist die Haltung natürlich völlig korrekt. „Wir würden sicherlich niemals einen Deal mit der Industrie abschließen können, dafür sind die Plattenverkäufe unserer Band zu unberechenbar. Nun gut, wir werden warten. Mit den Plattenfirmen ist es immer auch ein Erziehungsprozeß.“ Christoph Dreher, Bassist und Pressesprecher für Die Haut, denkt dabei natürlich auch an eine Band wie Sonic Youth, die inzwischen mit angekrautetem Folkmetal in den MTV-Videocharts herumgeistert. Und Die Haut läßt sich für das Cover ihrer aktuellen LP mit einem BMW der Treuhandklasse im Wald ablichten: „Der Wagen ist ökonomisch und schadstoffarm.“ Richtig will ihnen allerdings niemand die blauäugige Logik glauben. Dabei geht die Band ganz bewußt den direktesten Weg der Einschreibung ins Kapital. Richtige Rocker zeigen dagegen ihren Reichtum nicht.

Ähnlich durchdacht fallen auch die musikalischen Produkte der Band aus. Nach den ersten beiden Maxis und einer halbgaren LP mit Nick Cave als heulendem Kellerkind hat Die Haut in einem Zeitraum von acht Jahren nur drei Platten veröffentlicht. Sie folgten einer merkwürdig auseinanderklaffenden Dialektik. Einmal mit Gastgesang, einmal instrumental. Diese nicht vorhandene Kompromißfähigkeit, Lieder mit Texten zu machen, bleibt auch trotz der „reinen“ Gesangsplatte „Head On“ bestehen. Die Band hat dafür an verschiedene Sangesgrößen Bänder verschickt, ohne Gesangsparts auszuarbeiten. Sie war gespannt, ob etwas Drittes durch die Vereinigung der unverbundenen und unabgesprochenen Teile herauskommen würde. Debbie Harry hatte den Witz nicht ganz verstanden und war ohne einen eigenen Text im Studio erschienen. Sie mußte noch während der Produktion dichten. Den Songs merkt man die Abwesenheit der sonst gängigen Popverschmelzung von Melodie und lyrischem Erguß nicht an. Auf „Breaking in your Daydream“ singt sich Jeffrey Lee Pierce alles Leid der Welt von der Seele, ohne daß die Musik als Beiwerk der Herzausschüttung erscheinen würde. Beides steht ein wenig aus dem Lot gerückt, neben dem Mittelpunkt.

Viele Lieder klingen nach verflossener Liebe, nicht nur die in großem Entertainerstil gehaltene Ballade „How long“, die Blixa Bargeld mit der mauligen Chanteuse Anita Lane ans Ende der Platte gesetzt hat. Auch auf „Doggin'“ von Lydia Lunch scheint so etwas wie Müdigkeit im Exzeß durch. Nicht ohne Grund. Viel hat man im Laufe der letzten zehn Jahre nicht erreicht. Manchen Musikern aus dem Untergrund ist nur die Katerstimmung geblieben, und auch Die Haut sieht nicht so aus, als täte ihnen die alltägliche Verausgabung gut. Jeffrey Lee Pierce konnte zum Auftritt nicht erscheinen: Leberzirrhose. Auf der Bühne merkt man der Band die Strapazen kaum an. Völlig schwindelfrei bewegt sich Die Haut mit ihren eingeladenen Gesangsgästen aus zehn Jahren von Rausch zu Rausch und zieht die Menge im Tempodrom mit. Eine Menge von ihnen ist vielleicht nur zur Auffrischung alter Erinnerungen ins Konzert gekommen. Andere haben sich einfach nur von den mythenumwobenen Namen anlocken lassen.

Keiner wird enttäuscht: Nick Cave gibt ein sehr betrunkenes Gastspiel, Alex Hacke von den Neubauten erfindet den Soul irgenwo zwischen Urschrei und Blues neu. Nur manchmal treten verlegene Pausen ein, wenn der Blick der Band etwas zu lange durch das Publikum schweift. Es mag am Alter liegen. Da war etwas verlorengegangen, was man auch am Abend im Tempodrom nicht wiederfinden konnte. Die Feier zum zehnjährigen Geburtstag macht mit der Zeit die meisten Wegbegleiter vor der Bühne traurig-betrunken, aber kaum melancholisch.