: Atomare Zeitbomben
In den UdSSR-Nachfolgestaaten bleiben die gefährlichen Alt-Reaktoren weiter am Netz; der Westen setzt auf Finanzhilfen für eine Nachrüstung ■ Von Donata Riedel
Kurt Pfeiffer ist sich in einem ziemlich sicher. „Die Regierungen der UdSSR-Nachfolgestaaten werden ihre Kernkraftwerke nicht abschalten.“ Der Ingenieur ist seit 1988 als Repräsentant des Bereichs Energieerzeugung der Siemens Kraftwerksunion (KWU) in Moskau. Nach der Tschernobyl- Katastrophe hatte Gorbatschow die KWU-Techniker ins Land geholt, um Sicherheitssysteme für die sowjetischen Reaktoren zu entwickeln. 50 Prozent aller Auslandsaufträge der UdSSR gingen damals an die deutsche Firma — „als es hier noch Geld gab“, wie Pfeifer sagt.
Geld gibt es heute bekanntermaßen kaum noch in den Nachfolgerepubliken der UdSSR. Besonders die Regierungen Rußlands und der Ukraine hätten deshalb, so Pfeiffer, darauf gehofft, daß die reichsten Industrienationen (G-7) auf dem Münchner Weltwirtschaftsgipfel finanzielle Hilfen für ein AKW-Reparaturprogramm bereitstellen würden. Nachdem sich diese Hoffnung nicht erfüllt habe, gehe jetzt erst einmal „alles so weiter wie bisher“.
Wie bisher stehen also auf dem Territorium der Ex-UdSSR 15 Reaktoren des Tschernobyl-Typs RBMK. „RBMK-Reaktoren“, sagt auch Kurt Pfeiffer, „kann man nicht sicher machen. Man kann sie nur abschalten.“ In Osteuropa hängen zusätzlich 43 Reaktoren der Typenreihe VVER am Netz, weitere 28 AKW sind noch im Bau. Die neueren Sowjetmeiler, so glauben westliche Atomtechniker, ließen sich auf ein „akzeptables Sicherheitsniveau“ nachrüsten, das allerdings bei weitem nicht die EG- Standards erreichen würde.
Jenseits der Oder ticke eine Zeitbombe, hatte auf dem G-7- Gipfel Kanzlersprecher Dieter Vogel gewarnt. Gastgeber Helmut Kohl drängte seine Kollegen, ein 700-Millionen-Dollar-Sofortprogramm aufzulegen. Doch der Fonds, den Anti-Atom-Initiativen vehement abgelehnt hatten, weil er „gerade durch diese Kapitalbindung an die Atomstrategie entscheidend das notwendige Umsteigen in eine ökologische Energiewirtschaft“ verhindere, kam nicht zustande. Lediglich auf bilaterale Hilfen verständigten sich die Regierungschefs. Ein Stillegungsprogramm für die tickenden Zeitbomben fehlt in den Vorgaben der G-7 völlig — während Rußland die nuklearen Hilfsprogramme zunehmend als Einmischung in innere Angelegenheiten begreift.
Besonders die anderen UdSSR- Nachfolgestaaten, allen voran die Ukraine, werden im bevorstehenden Winter aus ihren Atomkraftwerken herausholen, was herauszuholen ist, so die Überzeugung von Kurt Pfeiffer nach Gesprächen mit ukrainischen Regierungsvertretern. Denn fossile Brennstoffe wie Öl, Erdgas und Kohle müßten sie aus Rußland beziehen, von dem sie auch auf dem Energiesektor allzu gerne unabhängig wären. Wie am Wochenende gemeldet wurde, denkt die ukrainische Regierung dabei sogar an ein Wiederanfahren von zwei Reaktoren im strahlenverseuchten Tschernobyl.
In Rußland werden wohl eher Gas- oder Kohlekraftwerke im tiefen Osten stillgelegt als die Atomkraftwerke im westlichen Teil. Denn in der energiefressenden Schwerindustrie östlich des Urals geht die Produktion und damit der Stromverbrauch zurück. Wenn es nach den Plänen des russischen Atomenergieministeriums gehen soll, werden bis zum Jahr 2.000 jedoch keineswegs Reaktoren stillgelegt, sondern noch weitere AKW gebaut. Die neueste Baureihe des VVER-Typs will die russische Atomindustrie außerdem in den Iran und nach China exportieren.
Wenn den G-7-Staaten die russischen Reaktoren zu unsicher seien, so ein Sprecher des Atomministeriums gegenüber der Greenpeace-Atomexpertin Inge Lindemann, dann sollen sie die zusätzlichen Sicherheitssysteme auch bezahlen. Nach dem russischen Selbstverständnis ist der atomare militärisch-industrielle Komplex eine High-Tech-Industrie. Und daß selbst ein Atomkonzern wie Siemens-KWU die Stillegung der Altreaktoren fordert, sieht man als geschickte Geschäftsstrategiean an: Siemens habe im ostdeutschen Greifswald nur deshalb für den Ausstieg plädiert, um dort ein neues Gas- und Dampfturbinen- Kraftwerk (GuD) bauen zu können, heißt es im Atomenergieministerium.
Ein großes GuD-Kraftwerk (mit vier Blöcken zu je 450 Megawatt) will Siemens-KWU auch bei St. Petersburg bauen. Diese Kraftwerke gelten als die modernsten der Welt, weil sie die eingesetzte Energie am effizientesten in Strom umwandeln. Doch damit dieses moderne Erdgaskraftwerk gebaut werden kann, müssen die RBMK- Atomreaktoren in Sosnowi Bor bei St. Petersburg zunächst weiterbetrieben werden, und zwar mit voller Kraft. Denn um das Siemens-Kraftwerk in Devisen bezahlen zu können, werden die Energieversorungswerke ihre Stromlieferungen nach Finnland deutlich erhöhen. Die Verträge mit der Regierung sind zwar noch nicht unterschrieben, es gibt aber ein Regierungsdekret, daß das neue Kraftwerk als GuD-Kraftwerk von aus- und inländischen Partnern errichtet werden soll. Siemens hat bereits ein Joint-venture mit dem größten Turbinenhersteller geschlossen, das die Gasturbinen und die Verschleißteile liefern wird. Das Kraftwerk bauen soll dann eine deutsch- italienisch-russische Ingenieurgesellschaft. „Je mehr wir uns im Bereich der konventionellen Kraftwerke engagieren, desto weniger Kernkraft wird langfristig gebraucht“, argumentiert Pfeiffer.
Der russische Umweltminister Viktor Danilow-Danilian will demgegenüber bereits kurzfristig auf Atomstrom verzichten. Die elf russischen RBMK-Reaktoren könnten maximal sechs Prozent des Strombedarfs decken, so Danilow. Sieben der Tschernobyl- Blöcke sind bereits heute aus Sicherheitsgründen nicht am Netz. Greenpeace hatte daher anläßlich des G-7-Gipfels ein Energiesparkonzept für Rußland vorgeschlagen, nach dem die RBMK-Reaktoren bis Ende 1993, die VVER-Reaktoren bis Ende 1995 stillgelegt werden könnten.
Das Energiespar-Potential ist nach Einschätzung aller Experten in Gusland enorm. Pro Kopf der Bevölkerung verbraucht Rußland 15 Prozent mehr Energie als Westdeutschland, obwohl die Wertschöpfung höchstens ein Drittel erreicht. Der 11,5-Prozent-Anteil Atomstrom dürfte daher leicht verzichtbar sein.
Der Druck des Westens, die atomaren Zeitbomben durch Stillegung zu entschärfen, ist seit dem Weltwirtschaftsgipfel nicht größer geworden. Finanzielle Hilfen für die maroden Meiler versucht jetzt die EG-Kommission zusammenzutragen. Bereits im Juli hat die Kommission in einem der taz vorliegenden Papier aufgelistet, welches Land wieviel Geld für nukleare Sicherheit in Osteuropa zu zahlen bereit ist. Über bilaterale Verträge haben die EG- und Efta- Staaten kleinere Beträge zugesagt, die sich auf rund 24 Millionen Ecu (48 Mio. Mark) summieren.
Unabhängig davon zahlt die EG-Kommission aus ihrem 1,7-Milliarden-Programm Tacis (Technische Hilfe GUS) allein 115 Millionen Mark für nukleare Sicherheit. In ihrem Papier bedauert die Kommission, daß über Tacis nur technisches und Management- Wissen finanziert werden darf. Deshalb will die Kommission nun prüfen, ob nicht auch die eigentlich nur für EG-Staaten vorgesehenen Euratom-Investitionstöpfe für Sicherheitssysteme auf die GUS ausgeweitet werden können. Dann nämlich könnte sie den Geldhahn richtig aufdrehen und bis zu zwei Milliarden Mark ausgeben.
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