Das Ringen um die „Fassung Barthel“

In der Berliner SPD nähern sich die Spitzenkandidaten Staffelt und Buttgereit in der Asylpolitik einander an/ Mehrheit des Parteitages kommende Woche gegen Petersberger Beschlüsse  ■ Von Dieter Rulff

Berlin. Eines eint alle Sozialdemokraten in der Asyldebatte: das Gefühl, von der CDU vorgeführt zu werden. Entsprechend groß ist das Bedürfnis, endlich wieder eine klare Position zu gewinnen, von der aus die Partei agieren kann. Über den Weg dorthin hadern auch die Berliner Genossinnen und Genossen miteinander, seit auf dem Petersberg zum politischen Rückzug geblasen wurde. Am kommenden Wochenende werden auf dem Landesparteitag die Delegierten für den Sonderparteitag der Bundes-SPD gewählt, dort fällt mithin auf Berliner Ebene die Entscheidung.

Landesgeschäftsführer Reinhard Roß ortet bei seinen Parteimitgliedern eine deutliche Mehrheit gegen die Petersberger Beschlüsse zum Asylrecht. Er rechnet auf dem Parteitag mit einer heftigen Debatte, schon allein, weil sich der Linken zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder die Chance biete, eine programmatische Debatte zu führen.

Die Voraussetzungen dafür scheinen günstig. Dem Landesausschuß lagen am letzten Montag zwei Positionen zur Asylpolitik vor. Eine „Fassung Barthel“, formuliert vom ausländerpolitischen Sprecher der Partei, der eine Änderung des Artikels 16 Grundgesetz kategorisch ablehnt. Und eine „Fassung Wartenberg“, in der der innenpolitische Sprecher der SPD- Bundestagsfraktion vage in Aussicht stellt, daß man bereit sei, mit den anderen Parteien über eine Grundgesetzänderung zu verhandeln, sollte dies zur Durchsetzung einzelner Ziele erforderlich sein. Zu diesen Zielen zählt er vor allem „die Trennung der offensichtlich unbegründeten Fälle von der Gruppe der politisch Verfolgten“ durch ein verkürztes Zulassungsverfahren.

Diese Trennung müsse das Grundrecht für politisch Verfolgte weiterhin sicherstellen. Zudem müßten „völkerrechtliche Verträge zum Asylrecht mit anderen Nachbarstaaten wirksam werden können“. Dann könnten auch Zuständigkeiten anderer Staaten für Asylbewerber anerkannt werden.

Barthel hingegen sieht in einer grundgesetzlich ermöglichten Versperrung des Zugangs zum Asylverfahren die Gefahr, daß Menschen Schutz verwehrt werde, den sie bitter nötig haben. Damit ginge auch „ein Teil sozialdemokratischer Identität verloren“.

Barthels Grundposition hat sich Mitte der Woche die Antragskommission des Parteitages in einer leicht modifizierten Fassung zu eigen gemacht, Wartenbergs Ausführungen wurden lediglich als Alternative genannt – ein kleines Indiz für die Kräfteverhältnisse auf dem Parteitag. Die CDU sah darin bereits einen „politischen Schlag in das Gesicht von Herrn Staffelt“, steht der Fraktionsvorsitzende der SPD doch in ihren Augen für eine Änderung des Artikels 16. Dem ist diese trügerische Schützenhilfe von unberufener Seite äußerst unlieb, will er doch am Wochenende zum Parteivorsitzenden gewählt werden. Zwar gilt seine Mehrheit gegenüber der Kandidatin der Parteilinken Monika Buttgereit als sicher, doch muß er vor der Wahl die Asyldebatte bestehen, und das kann ihn Prozente kosten.

Noch vor vier Wochen lag Staffelt auf Engholm-Kurs, mittlerweile folgt er der Kompromißlinie, wie sie auf Bundesebene vom Niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder angepeilt wird. Danach wird an der Rechtswegegarantie des Artikels 19 GG ebenso festgehalten wie am Asylrecht. Eine Änderung des Artikels 16 wird nur soweit mitgetragen, als es nötig ist, „daß Deutschland die Asylentscheidung anderer europäischer Staaten, die auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention ergehen, anerkennt“.

Damit ist Staffelt nicht mehr allzuweit von der Artikel-16-Verteidigerin Buttgereit entfernt, die sich bei einer Europäisierung des Asylrechts eine Ergänzung des Grundgesetzes vorstellen kann, derzufolge ablehnende Bescheide zwischen den Staaten anerkannt werden. Auch sie geht davon aus, daß „eine Menge Asyl begehren, die nicht politisch Verfolgte sind“, hält dieses Problem jedoch auch ohne Grundgesetzänderung für regelbar. Eine gesellschaftliche Mehrheit für die Beibehaltung des Artikels 16, so ihre Einschätzung, sei nicht vorhanden. Sowohl Staffelt als auch Buttgereit halten es für denkbar, daß noch vor dem Landesparteitag auf Bundesebene eine Kompromißlinie gefunden wird. Diese könnte den bisherigen Antrag ablösen.

Auf den Sitzungen der Bezirksgliederungen der Partei, bei denen sich die beiden Kandidaten um den Posten des Vorsitzenden den Mitgliedern und Delegierten stellten, hat nach Staffelts Einschätzung die Haltung zum Asylrecht keine wesentliche Rolle gespielt.

Auf dem Landesparteitag soll das Thema innerhalb einer Stunde abgehandelt werden, eingeleitet von einem Referat Oskar Lafontaines. Dessen radikales Eintreten für eine Abschaffung des individuell einklagbaren Asylrechts, so Roß-Erwartung, „wird die Berliner Genossinnen und Genossen in den Kompromiß treiben“.