: Die Stasi unerkannt im Hörsaal
Gab es mehr als 100 Informelle Mitarbeiter seit Gründung der FU?/ „Freie Universität immer im Fadenkreuz der SED“/ Wie groß war der Einfluß auf die FU-Strukturen? ■ Von Bernhard Pötter
In den nächsten Jahren werden an der Freien Universität viele ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) enttarnt werden. Die bisherigen Fälle von erwiesener oder behaupteter MfS-Mitarbeit von FU-Angehörigen sind für den Pressesprecher der FU, Christian Walther, nur „die Spitze des Eisberges“. Über die Anzahl der Stasi-Spitzel unter den 15.000 FU-Angestellten will Walther allerdings keine Angaben machen: „Jeder, der hier konkrete Zahlen nennt, stochert im Nebel herum.“ Insider jedenfalls schätzen, daß von der Gründung 1948 bis heute zwischen 100 und 200 Stasi-Mitarbeiter die FU ausspioniert haben.
Die Diskussion um die mögliche Stasi-Vergangenheit von FU-Mitarbeitern ist wieder aufgeflammt, nachdem der Dekan des Otto- Suhr-Instituts (OSI) für Politische Wissenschaft, Hanns-Dieter Jacobsen, am Mittwoch letzter Woche verhaftet worden war. Dem Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen wirft die Anklage vor, von 1968 bis 1989 für das MfS spioniert zu haben (die taz berichtete).
Bereits im August war ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ZI 6) nach Überprüfung durch die Gauck-Behörde als langjähriger IM unter dem Decknamen „Walter Rosenow“ enttarnt worden. Präsident, Vizepräsidenten und Kanzler der FU hatten damals bereits ihre eigene Überprüfung veranlaßt. Im Gegensatz zum OSI, wo sich am Montag fast alle Professoren zu einer Prüfung ihrer Akten durch die Gauck-Behörde durchgerungen haben, wurde ein solcher Plan vom Institutsrat des ZI 6 noch eine Woche vor dem „Fall Jacobsen“ abgelehnt. Es gebe keinen Grund, so der Verwaltungsleiter Albrecht Schultz, an der Loyalität der Mitarbeiter zu zweifeln: „Eine allgemeine Überprüfung stellt nur die Kollegen in die Ecke, die nicht mitmachen wollen.“
Schon immer sei bekannt gewesen, so Christian Walther, daß die FU „im Fadenkreuz“ der DDR- Geheimdienste gestanden habe. Zu erklären sei dies durch die Geschichte der FU, die 1948 bewußt als Gegenstück zur kommunistisch stark beeinflußten Humboldt-Uni gegründet wurde.
Die Fluchthelferbewegung von Studenten nach dem Mauerbau, der antistalinistische Ansatz der Studentenbewegung und auch der schiere Wissensvorsprung auf dem naturwissenschaftlichen Feld seien Gründe für eine sorgfältige Ausspähung der FU gewesen. Auch die Liste erfolgreicher Politiker, Journalisten und Wirtschaftsführer als Absolventen des OSI begründe das Interesse der DDR an diesem Institut. Ein Plan des MfS zur Übernahme West-Berlins führte denn auch die FU als strategisch wichtigen Ort an, den es schnell zu besetzen galt, um ein Unruhepotential zu unterdrücken.
Vor einer „Dämonisierung einer kleinen MfS-Gruppe“ warnt Klaus Schroeder, Mitglied im „Forschungsverbund SED-Staat“, in dem seit März Wissenschaftler der FU und anderer Hochschulen den Aufbau, die Wirkung und den Zerfall der DDR untersuchen. Der politische Einfluß von SED und FDJ auf die FU werde gegenüber der Einflußnahme von Agenten oft unterschätzt.
Wichtig sei es nicht so sehr, einzelne Stasi-Mitarbeiter im Lehrkörper zu entlarven, sondern nach dem allgemeinen Einfluß der DDR auf Strukturen und Entscheidungen der FU zu fragen. „Was war mit dem Personalrat? Was war mit den Präsidentenwahlen? Gab es Einfluß auf die Schlüsselpositionen der FU? Das ist viel wichtiger als einzelne Professoren“, meint Schroeder. Eine Überprüfung der DozentInnen wie am OSI hält er für unzureichend, wenn nicht auch die Verwaltung und sonstige Mitarbeiter einbezogen würden.
Die SED habe zuerst versucht, an der FU Ansprechpartner für eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR zu gewinnen, seit Ende der sechziger Jahre sollten die Hochschulen der Destabilisierung der BRD dienen.
In einem Beschluß des Zentralkomitees der SED von 1968, der Schroeder vorliegt, heißt es, daß die Maßnahmen an der FU mit den „befreundeten Kräften“ abzusprechen seien.
Hinter diesen „befreundeten Kräften“ und ihrem Einfluß ist Schroeder her. Sein Forschungsvorhaben zum Thema „Westberliner Forschungseinrichtungen unter besonderer Berücksichtigung der FU als Ziel der SED-Politik“ hat aber vor allem Interesse an Strukturen, nicht an Namen. Die Gauck-Behörde durchforstet die Stasi-Akten nach Bezügen zur FU. „Wenn wir die Akten sehen, sind die Namen da alle schon geschwärzt“, sagt Schroeder, „die erfährt aus den Akten nur der Staatsanwalt.“
Für Klaus Schroeder ist die FU mit ihrer möglichen Beeinflussung durch die Stasi kein Einzelfall. „Die FU hat nur als einzige Hochschule Berlins die fast selbstmörderische Kraft, diese Vergangenheit aufzuarbeiten. Aber vielleicht ist es an anderen Hochschulen noch schlimmer. Das Gerede von der FU als Stasi-Hochburg ist Blödsinn, das ist nur wieder ein Vorwand für Stellenkürzungen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen