: Berliner Tonfall, die fürsorgliche Variante
Yaak Karsunke liest im Asylbewerberheim ■ Von U. E. Ziegler
Am äußersten Ende der östlichsten Ausbuchtung Berlins, genau auf der Grenze zum Land Brandenburg, liegt das Asylbewerberheim Hessenwinkel. Zurückkommen wird schon schwieriger, belehrt mich der Taxifahrer im Berliner Tonfall, die selbstgerechte Variante: „Asylantenheim, da fährt keener hin.“
Es sind doch genug gekommen, um sich mit den Bewohnern den großen Saal zu teilen und ihn voll aussehen zu lassen; so kommen sie zueinander, der westdeutsche Chic, die gepflegten Gesichter der Studierten, und die, die vorübergehend zu Hause sind in der Fürstenwalder Allee 470-472. Man erkennt sie an den selbstgemachten Frisuren und der billigen Sportkleidung; ansonsten kommt ein Hauch von Ähnlichkeit auf die Gesichter, eine bestimmte mühelose Konzentration, die sich beim Zuhören einstellt, während Yaak Karsunke spricht.
Auch er hat den Berliner Tonfall, die fürsorgliche Variante. Ein silbergrauer, gebräunter Herr, der seine Art, Vertrauen auszustrahlen, selbst karikiert in der Anekdote von der Punkerin, die ihn (gerade ihn) um Feuer fragt. Eigenartig, wie man bei dem an diesem Abend am lautesten gesprochenen Satz „Haste mal Feuer?“ zusammenschrickt. Karsunke hat Feuer, eine warme, stete Flamme. Seine Sprache behandelt den Alltag, weniger maniriert als bei Schnurre, ohne den Denkerhabitus von Brecht. Er scheut sich nicht, eine Unterhaltung zwischen einem „Wurstmaxe“ (Erläuterung: „also ein Würstchenverkäufer“), einer Klofrau, einem Schuhputzer und einem Kofferträger am späten Abend eines langen Bahnhofstags vorzutragen, wie sie ihre Dienste tauschen, ihre Kundschaft messen, sich auf muffelige Weise Mut machen.
Da ruft ein Herr, der in der Fürstenwalder Allee gewiß nicht wohnt, in den Bahnhofs-Text: „Wir gedenken hier der Pogrome am 9. November 1933.“ Das Datum wird von Karsunke sanft berichtigt, ansonsten besteht er auf der Lesung. Er weiß, daß die Dominanz seiner Stimme das Einigende ist, dies ist kein literarisches Karaoke. Es ist eine kulturelle Demonstration, eine Demonstration des Kulturellen, mit einem Hauch Öffentlichkeit versehen durch vier kastige Lautsprecher auf Stativen und zwei beharrlich die Runde machende Kameraleute.
Die Idee, in jedem Bundesland eine Lesung in einem Asylbewerberheim abzuhalten, ging aus von der Else Lasker-Schüler Gesellschaft in Wuppertal und wurde unterstützt vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Verlags-Initiative „Gegen Gewalt und Fremdenhaß“ und dem Publizisten Jürgen Serke. Wie die Agenturen am folgenden Morgen melden, war die Resonanz in den anderen Bundesländern geringer, schon fast kurios der Fall Cottbus: Weil im Asylbewerberheim kein „größerer Raum“ zur Verfügung stand, wurde die Lesung in die Aula der 8. Multikulturellen Gesamtschule verlegt, wo Monika Maron zehn „Einwohner“ und zwanzig Journalisten vorgefunden habe. Erst nach einer halbstündigen Diskussion sei sie bereit gewesen, überhaupt zu lesen.
In Berlin hat man sich eins der besseren Heime ausgesucht, die Belegung gilt mit 590 Menschen in vier großen Häusern als erträglich. Der Kasinoraum der ehemaligen Stasi-Kaserne, in dem die Lesung stattfindet, sammelt unter seiner südseegrünen Decke den vergangenen falschen Glanz, der Pracht nie war. Es hat keine Angriffe von Neonazis gegeben; aber selbst wenn, sagt nach der Lesung eine aus Bosnien geflohene Geschäftsfrau in fast fehlerlosem Deutsch, „Wir können nur unser Leben verlieren.“ Die Kriegsflüchtlinge, in Deutschland offiziell „geduldet“, leben auf dem Gelände mit Asylbewerbern aus Rumänien und der Ukraine. Was haben sie „verstanden“ von der Lesung Karsunkes? Gewiß nicht seine entwaffnenden Variationen zu „Deutschland, Land meiner Väter/... Ich hatte nur einen“ — aber was angekommen ist, ist der investigative, humorvolle Ton; daß man „Deutschland“ sagen kann, ohne daß es wie „Polizei“ klingt; daß Leute aus der Stadt gekommen sind, die nicht mehr zufrieden sind mit dem, was sie in der Zeitung lesen.
Dann findet sich noch einmal ein kleinerer Kreis in der Bibliothek des Hauses 1, einem Zimmerchen mit zwei Buchwänden, osteuropäische Zeitgenossen und Klassiker aus DDR-Verlagen, illustrierte Bibeln auf russisch, die eine freikirchliche Gruppe aus den Niederlanden gebracht hat, und die schmalen Ausgaben der gängigen Duden. Aber erst einmal kommt es nicht darauf an, ob der Dativ stimmt und das Komma nicht fehlt. Es kommt darauf an, daß man überhaupt spricht, und es fällt nicht leicht, wenn der Gegenüber beim Stichwort „TV“ verwirrt zurückfragt: „Frau?“
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