: Zuviele Hormone; und Stil
■ James Brown, Incognito und SoullIISoul in Berlin
Im Konzertsaal gelten wahrscheinlich dieselben Regeln wie auf der Straße: Keine Ekstase ohne Stau. Wer seine Freizeit genießen will, muß auch den Stillstand aushalten können. Die etwa 5.000 Anhänger und Anhängerinnen, die James Brown nach einem weiteren betrüblichen Gefängnisaufenthalt vielleicht ein letztes Mal zu Gesicht bekommen sollten, hatten sich jedenfalls auf eine lange Wartezeit bis zum Auftritt des Godfather of Soul eingestellt. Drei Stunden Vorprogramm, während der Umbaupausen Musik von alten Sting- und Steely-Dan-CDs, die man sonst nur als hereingemischtes HipHop-Sample kennt. Die „One Nation under One Groove“ sieht überhaupt anders aus, als MTV sie in expliziten Videos beschwört und als Incognito oder SoulIISoul sie ständig von der Bühne herunter meinen, mit langweiligen Mainstreamnummern ansprechen zu müssen. Home-Erwachsene ohne Attitüde, mündige Bürger, die am Bierausschank nette Bekanntschaften machen, wenn der Standard auf der Bühne Überhand nimmt; Menschen, die bei Schmusenummern im Dunkeln ihr Feuerzeug nur aufflackern lassen, um sich eine Zigarette anzuzünden; die zur Wahlurne statt auf Demonstrationen gehen; es sind Leute, die das Konzert einer aus Fernsehen, Funk und Fachzeitschriften bekannten Soullegende sehen wollen und dafür eine Menge Geld ausgeben, ohne über zwei mittelmäßige Vorbands zu murren. Sie haben nicht wirklich mit James Brown gerechnet.
Nur so läßt sich die Welle der Euphorie verstehen, die mit den ersten Taktschlägen des Funky Drummers aufsteigt. James Brown is back – 60 Jahre alt, mit falschen Zähnen, einer auf wild gekämmten Perücke, und einem Bauch, der ihm zunehmend über den Hosenbund rutscht. Aber der Mann hat immer noch zuviele Hormone, als daß er sich im Las-Vegas-Stil zur bekichernswerten Showmumie machen ließe. Und Stil. Sein Auftritt ist eine endlose Krönungszeremonie. Die Band versteht es, ein viertelstündiges Intro zu spielen, ohne daß Mr. James Brown auch nur die geringsten Anstalten machen würde, die Bühne zu besteigen. Statt dessen reihen sich immer mehr Musiker, Sängerinnen und Conferenciers auf, die allesamt singen, wogen, jammen und die frohe Botschaft von der Ankunft des „Soul General“ verkünden: J.B., ein Mythos zweier Buchstaben, der in gut getimeten Abständen ausgerufen, die Kluft zwischen gepflegter Tanzorchesterunterhaltung und der Leibhaftigkeit des Meisters zu überbrücken soll. Plötzlich ist er dann unter tosendem Beifall einfach da, in einen nachtblauen Lamédress gekleidet und von sieben Ballettdamen umringt, deren Namen er sich wahrscheinlich während der gesamten Tournee nicht mehr einprägen wird. Zum Aufwärmen spielt die Gruppe ausgerechnet den blöden Gassenhauer „Living in America“ aus „RockyIV“, aber der Song ist heute mächtigerer Soul als alles bislang Dargebotene, ein simples Stück James-Brown-Geschichte. Es funktioniert, der Rest ist nach 35 Bühnenjahren Routine: die wahnwitzig geschwinden Tanzschritte, Drehungen und Windungen, mit denen James Brown sich um den Mikrophonständer wickelt; sein majestätisch resoluter Fingerzeig, der die Band für Sekundenbruchteile verstummen läßt; die schweren Schweißperlen auf seiner Stirn, die er immer seltener abwischt.
Bei „It's A Man's World“ geht James Brown halb in Demut und halb verzückt in die Knie, denn er weiß, wie man Höhepunkte feiert. Im selben Atemzug ist er bereits wieder auf den Beinen und droht dem angewurzelten Publikum mit Schreien, die man mittlerweile bei Prince vermißt.
Um fünf Minuten vor zwölf will er „Sex Machine“, vorher hat er sich zweimal seinen berühmten Mantel bringen lassen. James Brown weiß, wann die Zeit gekommen ist, auch wenn er seine Sängerinnen einige Male scherzhaft danach fragt. Harald Fricke
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