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Der tollkühne Mann auf den fliegenden Brettern

„Depp, was machst du hier“, kläfft der innere Schweinehund, „sei nicht dumm, kehr um! Doch sein Herrchen, hoch droben auf der Sprungschanze, spürt nur noch ein seltsames Weichgefühl in der Hose und ahnt: Wer zu kurz hüpft, den bestraft das Leben. Die Geschichte eines halsbrecherischen Selbstversuchs.  ■ Von Bartholomäus Grill

Skispringen – Springen mit Skiern von einer Sprungschanze nach schnellem Anlauf.

Knaurs Lexikon, 1931

„Seit die Vögel mich fliegen gesehen haben, gehen sie zu Fuß.“

(Ernst Vettori,

(österreichischer Schispringer)

Er hockt auf der Stange und starrt in die Tiefe. Jämmerlich muß seine Gestalt ausschauen: die hängenden Schultern, der eingezogene Kopf, die Schweißperlen auf der Stirn, die Schwammerl in den Knien. Aber gottlob sieht das keiner so genau, denn die Gaffer stehen im Talgrund, klein und feig wie Skorpione.

Der Springer und sein innerer Schweinehund – ihr da unten, wir hier oben. Der Schweinehund kläfft. „Depp, was machst du hier? Warum hast du heute nicht einen auf Oblomov gemacht und bist nicht einfach im Bett geblieben? Sei nicht dumm, kehr um!“ Hat der Schweinehund nicht recht? Und gibt ihm ein Vogelmensch, der es ganz genau wissen muß, nicht recht? Walter Steiner, der tollkühnsten Weitenjäger einer, hat die Schanzen einst „Monumente der Unvernunft“ genannt.

Ein Münster hätte zwischen dem tiefsten und dem höchsten Punkt der Anlage, also zwischen Auslauf und Sprungturmspitze leicht Platz. O Graus!

Der Mund wird trocken, die Muffe saust, die Nerven kitzeln. Lebensgefahr im Verzug! Er schluckt. Krallt sich fest am Balken. Blickt bang hinunter und nimmt nur eines noch wahr – den Abgrund hinter dem verdammten Schanzentisch. Gleich muß er vom Hochsitz rutschen und sich ins weiße Nichts stürzen. „Niemals! Hau ab, noch ist Zeit!“ bellt der Schweinehund. Aber was kann der schon gegen die Unvermeidlichkeit des Seins ausrichten?

Im nächsten Moment schallt das Talfahrtskommando zu ihm herauf: „Schanze frei!“ Es klingt wie ein Himmelfahrtskommando, und er weiß nicht so recht, ob er's frei nach Luther („Hier springe ich und kann nicht anders“) oder streng katholisch befolgen soll: „Introibo ad altare Dei, feiger Jesuit, tritt hin vor den Altar des Herrn!“

Über den Altar ist ein Schneetuch gebreitet. Er malt sich in Blutrot aus, wie er sich darunter opfert, wie es ihn beim Aufsprung „stangelt“, „streut“ oder gar „dawuzelt“, wie er gliederpuppig durch die Luft gezwirbelt wird und dann am Fuße des Steilhangs liegenbleibt, reglos, mit zerschmetterten Knochen, des Wahnsinns fette Beute.

Es gibt kein Zurück mehr. Schnell noch drei Kreuzl schlagen, kann ja nie schaden! Winselnd verstummt der Schweinehund. Der Springer fällt in kosmische Stille und Einsamkeit. Ein seltsames Weichgefühl steigt unter der Schihose auf. Alpen-Psychologen bezeichnen diesen Zustand als „Hosenbisler-Syndrom“...

Jetzt oder nie! Er stößt sich zaghaft vom Sitzholm ab, schlittert mit zwei, drei Ausfallschritten in den Anlauf und denkt nur noch daran, die Spurrillen sauber zu erwischen. Beim Abfahrtslauf, vor einem ähnlich grausigen Steilhang, könnte er immer noch feige abschwingen. Hier aber herrscht die schicksalsschwere Trinität des Endgültigen, Unumkehrbaren, Unaufhaltsamen.

Erst denkt er an das Ei des Kalmbergus (abgeleitet von der Kalmberg-Schanze zu Bad Goisern), denn eiförmig soll die Haltung sein. Automatisch geht er in die Hocke und legt die Arme zurück. Dann setzt das Denken aus. Das Geläuf knischt, der Fahrtwind pfeift. Mit Affenzahn saust er auf den Abgrund zu. Eigentlich saust der Abgrund auf ihn zu wie ein Lokungetüm im finsteren Tunnel.

„Ein Gruseln ging durch meinen Körper... Abspringen! Abspringen! Das war der einzige Gedanke, der mich auf dieser Fahrt bewegte.“ Diese Zeilen hat der erste Mensch, welcher über die Hundert-Meter-Marke flog, niedergeschrieben. Abspringen! Abspringen! Bubi Bradls ewige Wahrheit durchzuckt auch unseren Springer in den Sekundenbruchteilen zwischen Kehlung und Kante des Schanzentisches. Instinktiv reißt er sein Gestell hoch und fegt – schschschschscht! – mit 70 Stundenkilometern über den Bakken.

Es ist, als hätte ihn ein Katapult in die Tiefe geschleudert. Lieber Alpenkönig, trage ihn über den Vorbau! Denn dieses ausnahmsweise flache Golgatha, das sich von der Schanze bis zur Nase des Sprunghanges hinzieht, ist furchtbar. Wer zu kurz hüpft, den bestraft das Leben. Er wird auf der Betonebene in seine Einzelteile zerlegt, eh' er den Aufsprung zu Gesicht bekommt.

Drüber, drüber, drüber! Arme anlegen, Brustkorb nach vorne schieben, aber nicht zu wild, sonst kommt die Oberluft, Alptraum jedes Springers. Sie preßt die Spitzen gnadenlos nach unten und wirft den Luftikus aus dem Gleichgewicht – er überschlägt sich und erfährt die wahre Bedeutung des Salto mortale.

Wer denkt da schon dran, daß sein Körper gemäß den Gesetzen der Aerodynamik aus der Ei-Stellung (im Anlauf) in die Bananen- Haltung (bei der Luftfahrt) übergehen soll, wenn es nach den Gesetzen der Selbsterhaltung nur noch darum geht, daß er sich nicht in einen Palatschinken (im Auslauf) verwandelt?

Welcher Leser erfrecht sich, nach der äußeren Haltung zu fragen? Er springt nicht im Vogelstil und nicht im Fischstil und in der V- Grätsche schon gleich gar nicht. Er springt nur irgendwie. „Jetzt konnte ich mich auf die Luft legen! Ruhig zog ich nun weiter, weiter, weiter... Jetzt flog ich rasch in die Tiefe. Schnell kam der Aufsprung näher, und nur ein Gedanke beseelte mich mehr: ,Nicht stürzen!‘“

So fühlte Bradl bei seinem weltmeisterlichen Sprung am 19.Februar 1939 in Zakopane. So ähnlich ergeht es unserem Kandidaten am 4.Jänner 1992 in Bad Goisern – mit dem kleinen Unterschied, daß sich seine Weite zu derjenigen des Champions verhält wie ein Katzensprung zum Panthersatz. Aber gehupft ist eben wie gesprungen.

Um Himmels willen, nur nicht stürzen! Es sind schon viele Meister vom Himmel gefallen! Unser Anfänger kommt sich vor wie in einem zu schnell abgespulten Filmstreifen. An den Rändern seines Sehfeldes flitzen die Wipfel der Fichten und die Gestalten der Zuschauer und die Markierungen des Hanges vorbei. Eine kleine Ewigkeitssekunde schwebt er durch den Äther, und die Relativitätstheorie gilt umgekehrt: Er ist in schneller Bewegung, doch seine Zeit scheint langsamer durch die Sanduhr zu laufen.

Aber ach, eh' er sich's versah, landet er auch schon krachend. Rrrrrummms! – ein echter Kacherlaufsprung, beidbeinig und mehlsackmäßig. Balance halten, nicht rodeln, nicht fallen.

Gestanden! Hurra, er lebt noch, und alle Knochen sind heil.

In sausender Fahrt brettert er durch den beinharten Auslauf. Der Puls jagt ungefähr mit 180 dahin. Ein wundersames Wonnegefühl steigt ihm in die Brust. Alte Giftler können das gewiß nachempfinden: Es ist wie der Kick vom Kokain – nur, daß man sich beim Skispringen den Schnee nicht

durch die Nase zieht, sondern unter den Haxen durchrauschen läßt...

Das Rauschhafte erahnen offenbar auch nüchterne Zaungäste: „Ruhig wie ein Vogel schwebte er dahin. Wie ein Meteor ging er unter der erstaunten Menge nieder. Es war wie eine Vision.“ Kein geringerer als Fritjof Nansen hat diese Eindrücke der Nachwelt hinterlassen. Man möchte meinen, der Polarforscher hätte den fliegenden Yeti gesehen. Allein, er beobachtete den 25-Meter-Satz eines waghalsigen Zeitgenossen im vorigen Jahrhundert.

Zurück in die Gegenwart, auf den Boden der Sprungsachen. Kaum hat das Hirn wieder den Bauch als Zentralorgan unseres Springers abgelöst, interessiert ihn nur noch eine Frage: Wie weit? Nun ja, immerhin 26 Meter, eine Nansen-Weite. Das ist auf der 40-Meter-Anlage schlechterdings nicht zu verachten. Außerdem: Im Jahre 1879 wäre diese Weite neuer Weltrekord gewesen; dazumal hielt ihn der Norweger Torjus Hemmestveit. Aber das Meterergebnis ist gar nicht wichtig. Es zählt allein das Flugerlebnis, und das ist, wie alte Schanzenhasen versichern, bei allen gleich: Selbst die kurze Luftfahrt beschert lange Glücksmomente.

Dann steht er da, stumm und stolz wie weiland Björn Wirkola, der legendäre Schanzenkönig. Er schaut ehrfürchtig hinauf zum Anlauf, wo er vor ein paar Augenblicken noch stand wie ein zitterndes Komma. Der Schweinehund sagt gar nichts mehr.

Sepp Lichtenegger kennt den Teufelskerl Björn Wirkola nur zu gut; der Norweger hat nämlich seinen größten Triumph verhindert, anno 1966, bei der Vier-Schanzen-Tournee, als der fünfmalige österreichische Staatsmeister „nur“ zweiter wurde hinter ihm. Lang ist's her. Heute lehrt der Goiserer jenen Winterfrischlern, die auszogen, das Fürchten zu verlernen, die Kunst des Skispringens.

Gewiß, das war keine Traumparabel, die der Debütant in die Winterluft zeichnete; der Anstellwinkel zwischen Ski und Körperachse (zehn bis fünfzehn Grad ist ideal) stimmte auch nicht; und den eleganten Telemark-Aufsprung wird er nimmermehr lernen. Der Sepp lobt ihn trotzdem: „Guat.“ Weil er dann noch ein trockenes „sauber“ hinzufügt, freut sich der Spring- von-der-Schanz ganz besonders – normalerweise bringt der Altmeister nämlich selten mehr als ein Wort heraus.

Sepp Lichtenegger ist ein Sportsmann, in dem das Geheimnis des Skispringens wohnt. Er kann es nicht ausdrücken, und wenn er's könnte, so wollte er's nicht: „Des muaßt einfach ins G'fui kriagn.“

„Auffi“, sagt er. Noch mal? „Nadürle“ (Natürlich). Der Geist sträubt sich, die Natur wird schwach. Sind das die Zeichen der Sucht, „die dich nie mehr losläßt“? Das hat Walter Steiner, Schweiger, Schnitzer und Schispringer, bekannt. Werner Herzog, der Regisseur, meißelte ihm vor Jahren ein Filmdenkmal.

Da sieht man, wie es den Schweizer immer wieder auf den Sprungturm treibt, wie die Lust und die Angst in ihm ringen, und wie er am Ende ihrer Verschwisterung erliegt: Die Angstlust siegt, unser Sonntagsspringer kann es bestätigen. Er muß freilich hinzufügen, daß ihn noch andere Federn beflügeln: ein bisserl Heldentümelei ist dabei, ein Quentchen Närrisches und viele Männerphantasien.

Aber so weit wie Sepp Weiler, in den fünfziger Jahren einer der besten Skiflieger hierzulande, würde er nicht gehen. Diesen Sepp scheinen seinerzeit regelrechte Schanzen-Orgasmen beglückt zu haben. Er empfand beim Springen „des gleiche G'fui, als ob i a Weib pack“. Da lacht der Schweinehund.

An dieser Stelle wird es höchste Zeit fürs Philosophische. Ja, sprechen wir es ruhig aus: Es ist der uralte Traum vom Fliegen, der den Skispringer beseelt, auch wenn er in Wirklichkeit doch nur durch die Lüfte flattert wie ein dummes, dickes, gestutztes Huhn. Aber so genau wollen wir das gar nicht wissen, schließlich leben wir in einem Zeitalter, in dem Großflughäfen nach flugunfähigen Vögeln getauft werden. Der Hl.Georg (Thoma) sei vor, daß im Bayernland auch noch die Schanzen mit dem Namen Franz Joseph beschwert werden...

Unser Mann hält es lieber mit Luis, dem Trenker: Der Berg ruft. Er steigt wieder hinauf, die schweren Bretter geschultert, Schritt für Schritt, höher und höher. Der Hang, die Schanze, das Turmgerüst: er liebt diese Königin im Schneereich – und er haßt sie. Allmächtig, gravitätisch, furchteinflößend thront sie im Berg. Heimtückisch, launisch, gemein behandelt sie den, der ihr verfallen. Männerphantasien, fürwahr.

Dann hockt unser Mann wieder in schwindelnder Höh', als zitterndes Komma, und ein letzter Merksatz fällt ihm ein: „Wer sagt, daß er da oben keine Angst hat, der lügt.“ Ewald Roscher prägte ihn. Dem kann man das glauben – er ist schließlich Bundestrainer der deutschen Weitenjäger.

Aber kein Springer redet darüber. Nur der Schweinehund spricht es offen aus.

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