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Ungestümes Laufen, Rennen

Sally Potters „Orlando“ verfilmt eine androgyne Biographie für moderne Grenzgänger  ■ Von Yvonne Rehhahn

Eine junge Frau erwacht nach langem Schlaf. Sie streift die Kleider vom letzten Tag ab. Ihre Hände tauchen in eine Schale mit Wasser ein. Sie kühlt sich das Gesicht, der Schlaf war schwer. Die Kamera blickt der Frau ins Gesicht: Sie ist schön, hat vornehme Züge, ihre Haut ist zart und straff. Die Augen liegen blau unter federleichten Wimpern. Im Spiegel betrachtet sie ihre bloße Gestalt, ohne Erstaunen. Die Frau war ein Mann, Orlando, und jetzt,same person, no difference at all, just a different sex.

Die englische Regisseurin Sally Potter, die auf der Berlinale 1984 mit der surrealen Komödie „Gold Diggers“ reüssierte, hat Virginia Woolfs unsterblichen „Orlando“ verfilmt. Unterstützt wurde sie dabei von der exzellenten Kamera des Moskowiters Alexej Rodionow (Elen Klimows „Abschied von Matjora“). Potters Adaption werkelt nicht an einer Paraphrase des feministisch-inspirierten Originals. „1600 Tod“, „1610 Liebe“, „1650 Poesie“, „1700 Politik“ und „1850 Sex“: lakonisch verhandeln die Kapitel das Für und Wider des Geschlechterwechsels, focussieren Geschlechterrollen als Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Macht- und Klassenverhältnisse: Orlando ist kein harmloser Feudaler.

Das Spiel, jederzeit das Geschlecht neu zu vergeben, ist ironisch und ernst gemeint. Die unerhörte Begebenheit behält gleichwohl ihr Geheimnis. Sally Potter und mit ihr Tilda Swinton, Protagonistin, androgyne(r) Held(in) Orlando gelingt das Kunststück, aus dem alterslosen Zeitreisenden eine heutige Figur zu machen, die nach vier Jahrhunderten ihre Entdeckungen vorstellt. Orlando agiert in historischen Tableaus, der Ton aus Satire, Scherz und Ironie ist aktuell, darin Peter Greenaways „Kontrakt des Zeichners“, Stephen Frears „Gefährlichen Liebschaften“ und Derek Jarmans „Caravaggio“ verwandt.

Virginia Woolf verwandelte das Leben ihrer Freundin Vita Sackville-West, diesen „Gardeoffizier mit Bärenfellmütze und Reithosen“, in einen literarischen Liebesbrief, eine mock biography, „die im Jahr 1500 beginnt & bis zum heutigen Tag führt, Orlando genannt: Vita; nur mit einer Umwandlung aus einem Geschlecht in ein anderes.“ Luzide Prosa, in drei Monaten (1927/28) von Woolf zu Papier gebracht, Weltliteratur, „ein einziger Witz; doch heiter & schnell lesbar“. Und Woolfs größter kommerzieller Erfolg.

Sally Potters „Orlando“ prunkt im dunklen Zuschauerraum. 20 Millionen Mark hat die Produktion verschlungen, es rollten auch Rubel der Leninfilm, St. Petersburg.

Der Jüngling, „denn es konnte keinen Zweifel an seinem Geschlecht geben“, eilt mit heftigen, ausladenden Schritten durch gute wie durch schlechte Zeiten. Er ist ein Schwärmer, der sich in den elisabethanischen Rumpelkammern verirrt und dort auf ungeliebte Verlobte (Anna Healy, wunderbar zickig)) trifft. Lesen, Frauen stehenlassen für einen Vers, den Sinn des Lebens unter Bäumen suchen. Seine Anwandlungen von Melancholie, Abschied und Tod antizipierend, vertreiben Sascha, die russische Prinzessin (Charlotte Valendrey), zurück ins eisige Bojaren- Land. Die Treuelosigkeit der Frauen. Die Treuelosigkeit der Männer.

Orlando, das ist auch eine schöne Hofschranze, Günstling Queen Elisabeths. Ihr Besuch in Orlandos Vaterhaus ist die Ankunft einer Herrscherin im längst dunkel gewordenen Licht; auch wenn Hunderte Kandelaber, Kerzen und der Glanz goldener Teller die jungfräuliche Matrone bescheinen. Mit der Besetzung von Quentin Crisp als Elisabeth bginnt Sally Potters dialektisches Verwirrspiel mit den Geschlechtern. Crisp, letzter lebender englischer Exzentriker, Inkarnation einer Queen of England, wankt als monströse Bienenkönigin zu ihren hohen Kissen im Gemach.

Sandy Powells Kostüme (Mike Figgis „Stormy Monday“, Jarmans „Caravaggio“, „Edward II“) halten das Zeitalter rot, in allen Nuancen, Rot, Farbe des Lebens, aber auch so welk wie Rosenblätter in einer Schale mit Wasser. Elisabeths alter Leib riecht nach einem Schrank, in dem Pelze in Kampfer aufbewahrt werden. Orlando wird ihr letzter Talisman sein. Seine schmalste Stelle am Knie betört Elizas Augen, sie schenkt ihm Haus und Hof, unter einer Bedingung: Verblasse nicht, verwelke nicht und werde niemals alt. „Eliza ist die schönste Königin“, ein Engel (Jimmy Somerville) nur, der solches singen kann.

In Konstantinopel findet Orlando Linderung nach peinvollem Techtelmechtel und mißglückten Erkenntnissen in Sachen Poesie. Nick Greene (Heathcote Williams), Zyniker und Poet, hatte das landlordliche Opus als Schmarrn entlarvt. Bei einem Lunch ergeht sich Orlando über das Mysterium Dichtung. Mr. Greene schaufelt am anderen Ende der Tafel immer noch mehr Suppe in sich hinein. Leben und schreiben sei die Reihenfolge, nicht umgekehrt. 300 Pfund Rente, vierteljährlich bezahlt, sind angemessen. Unter der orientalen Sonne, künstlicher als alle Solarien, bricht Krieg aus. Orlando, Abgesandter der Krone: Zu den Waffen!

Der reine Tor, täppisch, unwissend und selbstbezogen, verweigert sich dem männlichen Geschäft. Orlando betritt als Frau die Szene. Die Widrigkeiten weiblichen Daseins sind alles andere als amüsant. Wieder heimgekehrt ins England des 18.Jahrhunderts, erfährt Orlando, daß sie von der Erbfolge ihres Besitzes ausgeschlossen ist. Ihr zweifelhaftes Geschlecht, sie sei so gut wie tot, bedeuten ihr die Herren Swift (Roger Hammond) und Pope (Peter Eyre). Orlando ist anstößig geworden.

Nachdem Orlando/Tilda Swinton angekleidet, geschnürt, einge- zwängt und verpackt ist, stürmt sie durch die Galerien ihres Hauses. Und eckt mit der steifen, weißen Robe überall an. Die Bekleidung kommt dem Anlegen von Waffen gleich. Orlando braucht im Laufe der Zeit immer weniger Bekleidung, in der Gegenwart begegnen wir ihm im androgynen bewegungsfreien Outfit.

Mit einem rasanten Schnitt landet Orlando im viktorianischen Zeitalter. Die Liebe fällt ihr vor die Füße. In Shelmerdine (Billy Zane), dem romantischen Freiheitskämpfer für eine neue Welt, erkennt sie ein Stück von sich selbst. Es ist mit Sicherheit eine der heikelsten Sequenzen in Sally Potters Film. Kann doch Orlandos Hingabe mißdeutet werden als Zugeständis an die einzig mögliche Utopie, der von Mann und Frau. Doch weder Virginia Woolf noch Sally Potter enden hier.

Orlando hat ihren Besitz endgültig verloren. Dem materiellen Verlust steht das selbstbewußte Individuum gegenüber. Wenn Orlando am Anfang „ich“ sagt, klingt es anmaßend. „Ich“ ist Anspruch, definiert durch Besitz und Stand. Wenn Orlando am Schluß mit ihrem Motorrad, im Beiwagen Töchterchen Jessica, durch London zum ehemaligen Stammsitz braust, steht sie erleichtert in den Hallen. Niemand erkennt sie, sie ist Teil der anonymen Großstadtmenge geworden.

Tilda Swinton weiß nur zu gut, wem sie ihr Gesicht verliehen hat. Und das wird – für mich – mit Orlando verschmolzen sein, so wie Glenn Closes Gesicht als Marquise de Merteuil es bleibt. 36 Generationen von Swintons leben seit 780 in demselben Schloß. Derek Jarman, Bilderstürmer des britischen Kinos, dem Swinton seit „Caravaggio“ (1986) als Heroine zur Seite steht, sagt über den Antistar, daß sie gegen ein ganzes System rebelliert. Tilda Swinton fühlt sich der europäischen antinaturalistischen Schauspiel-Tradition, Brechts Epischem oder Artauds Grausamem Theater verbunden. Ihr Orlando zeigt sich, posiert, will gefallen, tritt zur Seite und ermuntert das Publikum, ihm dennoch nicht zu verfallen. Orlandos heftigste Bewegung ist das ungestüme Laufen, Rennen. Immer ist er/sie ein wenig zu spät. Swintons männlicher Orlando ist geradezu tölpelhaft. Das Verhältnis der Geschlechter spiegelt sie mittels disziplinierter Körpersprache. Wenn Orlando mit gerafften Röcken durchs Labyrinth der Jahrhunderte rast, ist sie Femininum und Maskulinum. Am Ende vereinigt sie „in sich die Kraft eines Mannes und die Anmut einer Frau“.

***

taz: Sie spielen Orlando als Mann viel distanzierter denn als Frau – eine Umkehrung der Geschlechterrollen, oder schafft Kleidung Bewußtsein?

Swinton: Meine Aufmerksamkeit, wenn ich den männlichen Orlando spiele, galt dem, zu versuchen, ihn als einen so femininen Mann wie nur möglich zu spielen. Für mich ist dies der größte Widerspruch im cross-dressing, der mir aber auch den Spielraum verschafft, herauszufinden, wo sind die Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede.

Sind Sie der Ähnlichkeit der Geschlechter begegnet?

Was uns interessiert hat, war die Geschichte eines Mannes, gespielt von einer Frau, die sich in eine Frau wandelt, im Bewußtsein, ein Mann gewesen zu sein und in Zukunft als Frau bestimmt zu werden.

Bewußtseins-Achterbahn fahren...

(lacht) Ja. Dieser Widerspruch war es, weniger Männlichkeit, Weiblichkeit per se, die äußeren Bestimmungen, die politischen Auswirkungen, die durch die Rollen Frausein, Mannsein determiniert werden. Es ist spannend zu sehen, was durch die Jahrhunderte dieses oder jenes veränderte Verhalten in der Umgebung bewirkt. Es ist ein Unterschied, ob Sie die Beine bedeckt halten müssen, oder ob Sie sie freihaben und rennen können, ob der Brustkorb eingeschnürt ist oder nicht.

Sehen Sie in Androgynität eine Art Zukunftsprojekt für uns?

Es ist keine Frage für mich, daß es Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Androgynität ist ein Mirakel, etwas Geheimnisvolles, von dem jeder eine Erinnerung in sich trägt. Was war, bevor wir als Frau oder Mann von außen bestimmt wurden? Androgynität stellt die Frage nach der Befreiung der Geschlechter, mehr denn je der Frauen, der sexuellen Selbstbestimmung, der Schwulen und Lesben. Mithin ist es die Frage nach dem eigenen Standpunkt angesichts des erschütterten kapitalistischen Systems. Es reicht nicht, nur Hosen oder Röcke anzuziehen.

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