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Falsches Leben, echtes Theater

Jeremy Weller, Champion der Wirklichkeit, läßt 14 Hamlets in Bonn vorsprechen  ■ Von Gerhard Preußer

Das Leben ist Wahrheit, Kunst ist Lüge, dieser alte Irrtum wird wieder populär. Weil die Wirklichkeit sich in mediale Simulationen verflüchtigt, will man ihr um so hartnäckiger auf den Fersen bleiben. Reality-TV ersetzt den Katastrophenfilm, und im Theater: real- life Drama statt Shakespeare.

Nur durch diese Gier nach Wirklichkeit ist Jeremy Wellers großer Erfolg in Großbritannien zu erklären. In den letzten drei Jahren hat er jeweils eine Produktion beim Edinburgh Festival herausgebracht: 1990 „Glad“ mit Obdachlosen, 1991 „Bad“ mit jugendlichen Straftätern und 1992 „Mad“ mit Frauen aus der Psychiatrie. Das Konzept ist immer gleich: Weller läßt Laien aus einer sozialen Randgruppe zusammen mit einigen Berufsschauspielern ihre eigenen Erfahrungen nachspielen. Dieser Selbsterfahrungsprozeß wird auf Video aufgezeichnet, transkribiert, von Weller bearbeitet und montiert und dann als Szenenmosaik von den Workshop- Teilnehmern wieder auf die Bühne gebracht.

Weller, der Schüler von Tadeusz Kantor war, kann offensichtlich Erfahrungen aus den Menschen herauslocken und sie wirkungsvoll zu einem Theaterabend kombinieren. In Edinburgh und London, bei Gastspielen in Bonn und Berlin gab's dafür jubelnde Kritiken, moralische Vorwürfe, das sei Voyeurismus und Ausbeutung, und volle Häuser. Als Weller jedoch an der Volksbühne in Ostberlin Camus' Roman „Die Pest“ mit Obdachlosen und Schauspielern paraphrasierte, war das Echo gedämpfter: „Amateurtheater“ lautete das desillusionierte Urteil über den ambitionierten Versuch, die Grenzen von Kunst und Leben zu überspringen.

Wellers zweites Projekt in Deutschland zielt auf eine neue Randgruppe: Schauspieler, genauer Theaterbesessene. In Bonn arbeitet er mit Schauspielschülern und Statisten. Seine Sehnsucht nach Echtheit im Theater ist dort angekommen, wo sie umschlägt in ihr Gegenteil, in Sehnsucht nach der Rolle. Hamlet zu spielen, ist der Traum jedes Schauspielers, nicht nur weil er der Protagonist des berühmtesten Dramas des berühmtesten Dramatikers ist, sondern auch, weil in dieser Rolle das Rollenspiel so eine große Rolle spielt.

Wie in all seinen bisherigen Projekten nimmt Weller auch diesmal die reale Situation der Suche nach Darstellern für die Aufführung als fiktive Spielsituation der Aufführung selbst. Das heißt in diesem Fall, ein Regisseur sucht Darsteller für eine „Hamlet“-Inszenierung. Elf Bewerber finden sich beim Vorsprechen ein, dann kommt noch ein amerikanischer Theatermacher hinzu, der als Trainer und Pausenanimateur fungiert, der 13. ist ein italienischer Paketbote mit Vornamen Amleto, dessen Ambitionen aber eher auf den Totengräber als auf den Prinzen zielen, und Nummer 14 ist die Regieassistentin, die als Übungs-Ophelia zur Verfügung steht.

Der Regisseur, genannt Professor (Franz Nagler in der einzigen „echten“ Rolle des Abends), verlangt von den Hamlet-Aspiranten ein Gebet, ein Bühnengebet, hörbar gemurmelt. Einer macht nicht mit, er sei Theologe, für ihn sei ein Gebet kein Spiel. Dann solle er wirklich beten, befiehlt der Regisseur. Und tatsächlich betet dieser Laiendarsteller mit erhobener Stimme das Vaterunser so, daß das Gelächter im Publikum verstummt und jeder weiß, das ist Ernst. Es gibt eine Wahrhaftigkeit jenseits des Spiels. Aber wenn dann derselbe theatergläubige Gottesdiener in einem Erinnerungsmonolog Geister seiner verlassenen oder verpaßten Geliebten beschwört und sich heulend am Boden wälzt, ist das Gelächter wieder da. Das authentische Psychodrama, in dem das Individuum sich seiner Identität versichert, ist auf der Bühne am falschen Platz. Die durchschlagende Kraft des Gebets war die des Rituals, nicht die der Authentizität.

Folglich sind die intensivsten Szenen des Abends diejenigen, in denen die vier Berufsschauspieler des Bonner Ensembles das tun, was zu ihrer normalen Rollenvorbereitung gehört, aber nicht unmittelbar in den Aufführungen zu sehen ist: ihr emotionales Gedächtnis befragen. Sie erinnern sich monologisierend an Erfahrungen, die denen ihrer Rollen verwandt sind. Hamlet bei der toten Ophelia, das sind Trennungen, Beziehungskrisen, Abschiede. Hier spielen Schauspieler die Rolle und sich selbst, springen unmerklich vom improvisierten Text zu Shakespeares Worten. Wenn dagegen die einzige weibliche Bewerberin, die Hamlet „mit den Gefühlen einer Frau“ spielen will, die schrecklichen Details ihrer Biographie authentisch herausposaunt und ihre Vaterbeziehung auf den Regisseur überträgt, bleibt dem Zuschauer nur das pflichtgemäße Mitgefühl.

Der Vorwurf des Voyeurismus, der anderen Projekten Wellers gemacht wurde, ist hier natürlich fehl am Platze. Schauspielsüchtige sind Exhibitionisten, die gesehen werden wollen. Doch damit fehlt auch der Schlüssellocheffekt, einen sonst verschlossenen Bereich der Gesellschaft sichtbar zu machen. Die Nachrichten aus der Welt der Schauspieleleven sind bekannt: Ein unsichtbarer junger Mann will aus der Not des Rollenwechsels einen Beruf machen, ein Kahlköpfiger mit Elvis-Toupet will auf der Bühne geliebt werden wie er ist, ein Filmschauspieler will außer Geld auch Kunst, der Statist träumt von großen Rollen, der Alptraum eines Theaterschauspielers ist, auf der Bühne Text und Stück zu vergessen, die Assistentin schläft mit dem Regisseur. Das Personal der Hinterbühnenkomödie ist komplett versammelt.

Daß der Abend nicht in dröger Peinlichkeit versinkt, liegt an Wellers Talent, Konfrontationen herbeizuführen. Immer wieder gehen die Möchtegern-Hamlets aufeinander los: die Lesbierin auf den Latin Lover, der Schönling auf den Macher. Alle Krisen, alle Ausbruchsversuche aus dem Gruppenprozeß werden mitgespielt. Selbst die Kritik wird mitgeliefert: „Ich spiele mir hier die Seele aus dem Leib, und euch kümmert das einen Dreck“, wirft Identitätssucher Claus seinen Mitspielern vor. Wellers Qualitäten als Menschen- und Szenenmonteur sorgen dafür, daß der Abend unterhaltend wird. Kein noch so bejahrter Bühneneffekt wird ausgelassen: Schüsse in die Luft, Sprung von der Leiter, Degengefechte die Menge, Brand des Regisseurssessels, eine Game- Show „Ich räche mich“. Doch wie das so ist beim Amateurtheater, den größten Spaß haben die Akteure und ihre Onkel und Tanten.

Am Ende entscheidet der Professor sich für den Hamlet, für den sich die meisten Regisseure auf den ersten Blick entschieden hätten: einen blondgelockten, hager- hübschen Jüngling (Steffen Laube), doch der lehnt ab, das Leben sei ihm wichtiger als die Rolle. Diesen Satz glaubt dem Schauspieler natürlich niemand. Wellers Suche nach dem echten Leben hinter der Rolle findet schließlich nichts. Der Mensch ist, was er nicht ist, und ist nicht, was er ist. Authentizität ist ein Fetisch. Wenn Weller sich entschließen könnte, Theaterregisseur zu werden statt Champion der Wirklichkeit, könnte seine „Hamlet“-Inszenierung wirklich sehenswert werden.

Jeremy Weller: „14 Hamlets“. Schauspiel Bonn (Alter Malersaal, Halle Beuel), Bühne: Hans-Georg Schäfer, Workshop-Leitung: Jonathan Failla. Weitere Vorstellungen 24., 26., 27. und 28. Februar.

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