■ Schreibengericht: Arithmetische Reihung
Georges Aperghis: Récitations– Martine Viard (Disques Montaigne 782007)
Nicht Gesang, nicht Lesung. Die 14 „Récitations“ von Georges Aperghis folgen keiner Gattung. Sie sind eine Stoffsammlung, die erst durch die Ausdeutung des Interpreten zum Stück wird. „Récitation 10“ zum Beispiel tritt als Sprachetüde auf. Ein rhythmisierter Zungenbrecher, dessen Worte zunehmend länger werden und immer schneller auszusprechen sind. In einer anderen Fassung jedoch (von dieser „Récitation“ werden vier Varianten geboten) entscheidet sich Martine Viard für einen gänzlich veränderten Sprachduktus. Eben noch die Schauspielerin, die in einer Vorsprechsituation den Text und sich selbst an den Rand des Sprachmöglichen treibt, ist jetzt das junge Mädchen zu hören, das, statt mit einem Gänseblümchen, mit Silben die Zuneigung des Geliebten auszählt. In der „Récitation 3“ dagegen ist den Tönen einer Zwölftonreihe je ein zu simulierendes Percussioninstrument zugeordnet. Die Sängerin hat neben der Tonhöhe auch die Klangcharakteristik von Maracas, Tomtom, wood block etc. zu treffen; selbstverständlich bei angestrebter Höchstgeschwindigkeit.
Die kleinen Stücke zielen nicht auf sängerische Qualitäten und auch nicht auf Textauslegung, sie spielen vielmehr mit den immensen Möglichkeiten von Sprache, besser: Sprechen. Sie zwingen Phoneme in das abstrakte Korsett arithmetischer Reihung, lassen musikalisch aber so viel offen, daß eine Sängerschauspielerin wie Martine Viard noch eine gehörige Portion Welt und Leben hineinpacken kann.
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