: Kinder nach Hoechst-Unfall evakuieren?
■ Hessens Umweltministerium drängt auf „Kotzbecken“ für Produktionsunfälle/ Hoechst-Chef Hilger war gegen mehr Umweltschutz
(taz) — Kinder sollten zumindest für die nächsten zwei Wochen aus den Frankfurter Stadtteilen Schwanheim und Griesheim evakuiert werden. Das fordert gestern der Kieler Toxikologe Otmar Wassermann. Die Stadtteile liegen seit einem Unfall im Chemiewerk Hoechst am vergangenen Montag unter einem Film giftiger Chemikalien, von denen einige sich bei frühlingshaften Temperaturen in krebserregende Gase umwandeln. Trotz etwas wärmerer Witterung hätten auch verstärkte Messungen bislang nichts Beunruhigendes ergeben, so der Sprecher des hessischen Umweltministeriums, Georg Dick dazu.
Wassermann hatte im Hessischen Rundfunk gewarnt, einige der Chemikalien - es waren insgesamt etwa 10 Tonnen freigeworden - seien „extrem krebserregend“. In den vergangenen Tagen war bekanntgeworden, daß vor allem die 2,5 Tonnen Ortho-Nitroanisol und rund eine Tonne Chlorbenzolverbindugen eine erhebliche Gefahr für die Bevölkerung darstellen.
Vertreter hessischer Behörden, des Umweltministeriums in Bonn, des Umweltbundesamtes und des Bundesgesundheitsamtes berieten den ganzen Tag im Hessischen Umweltministerium über weitere Konsequenzen aus dem Unfall. Auf die Frage, warum diese Spezialistenrunde erst eine Woche nach dem Desaster zusammenkomme, rechtfertigte Ministeriumssprecher Dick: Ohne solide Informationen über die Art der Chemikalien, die die Umgebung des Hoechst-Werkes verseuchen, wäre ein solches Treffen nutzlos gewesen. Ein Sprecher der Hoechst-AG mußte einräumen, daß auch gestern noch 2,7 Prozent der beidem Unfall freigewordenen Chemikalien nicht eindeutig identifiziert waren, das sind immerhin 270 Kilo.
Dick kritisierte gegenüber der taz noch einmal die laxe Sicherheitsphilosophie der deutschen Chemiekonzerne. Mangelhaft seien vor allem die Kenntnisse über das, was bei Chemieunfällen wirklich passiert und wie man die Folgen begrenzen kann. „In der Atomindustrie ist der Standard der Sicherheitsbetrachtung jedenfalls höher“, so Dick.
Die chemische Industrie in Hessen habe sich aber ständig gegen neue Sicherheitsauflagen gewehrt. Gerade Hoechst-Chef Wolfgang Hilger habe sich mit Klagen über den zu teuren Umweltschutz hervorgetan. Hilger hatte den Industriestandort Deutschland durch ein Überlast im Umweltbereich in Gefahr gesehen. Beim Konzern gab man sich gestern nachdenklich. „Mehr kann man immer machen“, räumte ein Hoechst-Sprecher auf die Frage nach zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen ein. Aber in Süd-Ostasien werde unter anderen Bedingungen produziert.
Das ficht den hessischen Umweltminister Joschka Fischer nicht an. Er will rund 100 Chemieanlagen in Hessen nachrüsten lassen, die mit ähnlichen Verfahren arbeiten wie die Unfallanlage in Griesheim. Giftige Chemikalien dürten das Werksgelände nicht einfach so verlassen können. Notfalls müßten die Chemiefirmen eben „Kotzbehälter einbauen, die das Zeug bei einem Störfall aufnehmen, damit es nicht in die Umwelt entweicht.“
Hermann-Josef Tenhagen
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