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Schröders dritter Bildungsweg

Niedersachsens Ministerpräsident über sich und Rot-Grün bis zur Jahrtausendwende  ■ Von Jürgen Voges

„Unsere Demokratie ist erwachsen geworden“, jetzt stehe sie vor der „Reifeprüfung“ – heißt es am Anfang des gleichnamigen Buches, das der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder „mit Reinhard Hesse“ geschrieben hat, oder besser, das Journalist Hesse aus langen Gesprächen, aus Reden Schröders und Papieren zusammengestellt hat. Potentielle LeserInnen sollten sich allerdings auch vom ausgreifenden Untertitel „Reformpolitik am Ende des Jahrhunderts“ nicht täuschen lassen: Auf 224 Seiten wird hier über weite Strecken in der Ich- oder Wir-Form erzählt. Das Buch will von Gerhard Schröders persönlicher „Reifeprüfung“ handeln. Für den Juristen Schröder, der einst mittlere Reife und Abitur „nachgemacht“ hat, sind seine drei Jahre als Chef der Rot-Grünen erneutes Examen. „Niemand hat gesagt, daß wir die Prüfung in allen Fächern mit Eins bestehen“, heißt es da über das Regierungsbündnis in Niedersachsen, das später um so mehr gelobt wird. Schröder, „der Spaß daran hat, an möglichst entscheidender Stelle zu wirken“, will in dem Buch „weniger ein Reformprogramm für die Gesellschaft der Zukunft entwickeln“ – er will „erzählen, wie man Reformpolitik anpacken kann“.

In der „Reifeprüfung“ wird also viel aus niedersächsischer Schule geplaudert, und so etwas ist nicht immer spannend. Alles wird noch einmal abgehandelt: die Mercedes- Benz-Teststrecke, die im Emsland entsteht, die Giftmüll-Debatten, die Bedeutung von VW für Niedersachsen, die Erdgaspipeline durchs Wattenmeer, die man brauche, „um endlich das AKW Stade vom Netz zu nehmen“ (ja wann denn endlich?), und im Kapitel „Hiltrud, die Künste und ich“ auch die Weltausstellung Expo2000. In den Verhandlungen mit der Energiewirtschaft sieht Schröder „einen Konsens erreicht über den Ausstieg aus der Kernenergie, wie sie heute genutzt wird“.

Überhaupt sind „Konsens“, „Dialog“, „Diskurs“ die Lieblingswörter. „Fortschrittliche Gesellschaften sind immer Konsensgesellschaften“. Ein ganzes Kapitel trägt den Titel: „Reden ist Gold – Die Politik des Diskurses“. Daß das ganze Buch aus gesprochenen Worten entstand, merkt man ihm denn auch ständig an: Da wird vieles angerissen, da wird Analytisches, Anekdotisches, Persönliches und Informierendes aneinandergereiht, und die armen LeserInnen können sich einen roten Faden zusammenstricken.

Die Schilderungen aus der Landespolitik sollen vor allem eines belegen: In Niedersachsen ist das rot-grüne Chaos wahrlich nicht ausgebrochen. Gerhard Schröder, der frühzeitig „Dialog- und Spagatfähigkeit trainieren“ konnte, hat in den drei Jahren als Ministerpräsident „Konsensbereitschaft mit dem privaten Kapital“ demonstriert und gleichzeitig durch „Zuhören“ und „Respekt füreinander“ eine Koalition zweier Partner gemanagt, „die wahrlich nicht füreinander gemacht sind“. Das rot- grüne Bündnis über die volle Legislaturperiode von vier Jahren zu bringen, hält er „für seinen wesentlichsten Beitrag zur Wiederherstellung sozialdemokratischer Regierungsfähigkeit in Bonn“. Die SPD im Bund fit für den Wechsel zu machen sei der Sinn des rot-grünen Experimentes, lautet dann auch letztlich das Fazit des Buches.

Doch wo bleibt am Ende (des Jahrhunderts) die Reformpolitik? Auch wenn Schröder den einen oder anderen Fehltritt eingesteht, die rot-grüne Koalition in Hannover beging bisher zwar wenig gravierende Fehler, aber verändert hat sie ebensowenig. Wenn Schröder von einem „gesellschaftlichen Reformstau“ spricht, kann er kaum allein die Lernmittelfreiheit und das Mehr an Kindergartenplätzen meinen, das die Niedersachsen der rot-grünen Landesregierung verdanken. Schröder weiß natürlich, „große Verteilungsspielräume sind nicht vorhanden, die Bundesrepublik befindet sich in einer Konsolidierungsphase“. Klugerweise gibt er denn auch die Reformaufgaben von der Politik an die Gesellschaft zurück: „Eine Reformpolitik, welche mehr Gleichheit der Lebenschancen, bessere Voraussetzungen zur Selbstverwirklichung und einen ökologischen Kurswechsel zum Ziel hat, läßt sich aber auch nicht ex cathedra verkünden und realisieren“, verlautet aus dem Reformstau-Kapitel.

Vieles, was Schröder hat schreiben lassen, leuchtet unmittelbar ein: etwa daß Kampf gegen Fremdenhaß und rechten Terror auch ein Kampf um mehr Gerechtigkeit sein müsse. Für Schröder hat Deutschland ohne Zuwanderung keine Zukunft. Er wirft der Kohl- Regierung Gegenreformen, Umverteilungspolitik von unten nach oben vor, die den sozialen Konsens aufs Spiel setzten. Für die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland veranschlagt Schröder 20 bis 25 Jahre. Die Zahl der aus dem industriellen Prozeß Entlassenen in den östlichen Bundesländern sei sozial kaum vertretbar, schreibt er. Aber nur solche Seitenhiebe gegen die Bonner Koalition lassen bei der Lektüre des Buches letztlich ahnen, daß die Bundesrepublik gegenwärtig ihre schwerste ökonomische Krise durchmacht. Die fünf Millionen, die nunmehr hierzulande alles in allem ohne Arbeit sind, werden vergeblich Perspektive oder nur Trost in Schröders Reformbuch suchen. Gegenwärtig gebe es eben keine großen Verteilungsspielräume, sogar gewisse Einschnitte müßten gemacht werden, deutet Schröder an. Empfiehlt sich hier am Ende einer als rot-grüner Krisenmanager für die Zeiten, in denen der Schuldenberg wieder abgetragen werden muß?

Gerhard Schröder schwört auf den Konsens, will jedermanns Freund sein. Aufgabe von Politik könne es jetzt eigentlich nur sein, „die Voraussetzungen für einen gesellschaftlichen runden Tisch“ zu schaffen, „an dem alle Platz haben und nach Lösungen für unsere gemeinsame Zukunft suchen“. Zur gleichen Zeit wird erstmals seit sechzig Jahren von deutschen Arbeitgebern ein Tarifvertrag gebrochen – im Osten. Wahrhaftig: ein Buch, in dem man vieles und Offenherziges über das Weltbild eines niedersächsischen Ministerpräsidenten erfährt.

„Die Reifeprüfung · Reformpolitik am Ende des Jahrhunderts“. Von Gerhard Schröder mit Reinhard Hesse. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1993, 39,80DM

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