: Tschernobyl im Protokoll
Geheime Protokolle belegen: Das Politbüro der KPdSU war über die Katastrophe von Tschernobyl ausgezeichnet informiert ■ Aus Moskau Alla Yaroshinskaya
Ich gehörte der parlamentarischen Untersuchungskommission an, die für den Volksdeputiertenkongreß die Maßnahmen staatlicher Stellen nach dem Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl untersuchen sollte. Die Kommission hatte das Recht, sämtliche Akten anzufordern. Fast alle Behörden, selbst das Verteidigungsministerium und das staatliche Meteorologische Komitee, legten wenn auch widerwillig die angeforderten Geheimakten vor. Alle – außer das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU, das auch auf offizielle Anforderungen nicht reagierte. Ich bin sicher, wir hätten niemals etwas erhalten, wäre es nicht zum gescheiterten Putsch im August 1991 gekommen.
Noch nach Jelzins Erlaß über das Verbot der Kommunistischen Partei – die Auslagerung der KPdSU-Archive hatte schon begonnen – verweigerten Beamte mir als Abgeordnete noch den Einblick in die geheim gestempelten Sitzungsprotokolle des Tschernobyl-Arbeitsausschusses des Politbüros. Dem Ausschuß hatte Nikolai Ryschkow vorgesessen. Sie behaupteten, sie dürften selbst parlamentarischen Ausschüssen keine Akten aushändigen, die als „vertraulich“ und „hochgeheim“ gekennzeichnet seien. Wer Zugang zu diesen Akten wünsche, solle bei der Behörde, die sie als geheim eingestuft habe, die Aufhebung dieser Einstufung beantragen. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon keine KPdSU mehr, und einige Mitglieder des Politbüros konnten im Gefängnis Matrosskaja Tishina über ihr Leben nachdenken.
Später – beim Lesen dieser einzigartigen Dokumente wurde mir klar, warum sie so geheim bleiben sollten. Das gefährlichste Isotop, das der Reaktor in Tschernobyl ausgekotzt hatte, fehlte nämlich in der Periodentafel der Elemente. Sein Name ist Lüge-86.
Lüge Nr. 1: Über die Auswirkungen der Strahlung
Die erste Sitzung der Operativgruppe des Politbüros fand am 29. April 1986 statt. Bis Mitte Mai traf sich die Gruppe täglich. Vom 4. Mai an wurde die Operativgruppe mit Berichten über Krankenhauseinlieferungen überschwemmt.
„Vertraulich. Protokoll Nr. 5 vom 4. Mai 1986. Anwesend: Mitglieder des Politbüros der KPdSU Genossen Ryschkow, Ligatschow, Y. K., Worodnikow, V. I., Schebrikow, V. M., Dolghikh, V. I., Sokolow, S. L., Sekretär der KPdSU Jakowlew, A. N., Innenminister Wlassow, A. E. (..) Zu berücksichtigen ist, daß sich bis zum 4. Mai die Gesamtzahl der Hospitalisierten auf 1.882 Menschen belief. Die Gesamtzahl der medizinisch Untersuchten betrug 38.000.“
„Vertraulich. Protokoll Nr. 8. vom 7. Mai 1986. An der Sitzung der Operativgruppe nahm der Generalsekretär der KPdSU, Genosse Gorbatschow, M. S., teil. Anwesend: Vollmitglieder des Politbüros, die Genossen Ryschkow N. I., Ligatschow, Y. K., Worodnikow, V. I., Schebrikow, V. M., befristetes Mitglied Dolghikh, V. I., Innenminister der UdSSR Genosse Wlassow, A. V. (...) Während der letzten 24 Stunden sind weitere 1.821 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert worden. Die Zahl der stationären Patienten belief sich am 7. Mai um 7.00 Uhr morgens auf 4.301 Menschen, darunter 1.351 Kinder. An Patienten mit diagnostizierter Strahlenkrankheit wurden 520 Menschen gezählt, darunter auch Beamte des Innenministeriums der UdSSR. Bei 34 von ihnen war der Zustand besorgniserregend.“
„Vertraulich. Protokoll Nr. 12. 12. Mai 1986. (...) Während der letzten 24 Stunden sind weitere 2.703 Menschen hauptsächlich in Weißrußland in Krankenhäuser eingeliefert worden. 10.198 Menschen werden stationär behandelt und überprüft, 345 von ihnen wiesen Symptome der Strahlenkrankheit auf, darunter waren 35 Kinder.“
Wie läßt sich die Dynamik dieser vertraulichen Berichte an die Operativgruppe mit den verharmlosenden Berichten über die Tschernobyl-Folgen in den Medien vereinbaren? Im Protokoll Nr. 21 vom 4. Juni 1986 bestimmten die „Direktiven für die Teilnehmer an der Pressekonferenz für sowjetische und ausländische Wissenschaftler und Journalisten“: „Für die endgültige Entscheidung über die Hospitalisierung sind entsprechende Kriterien eingeführt worden. Es wurden alle Menschen untersucht, die bei medizinischen Institutionen Hilfe suchten. Die Diagnose akute Strahlenkrankheit wurde gestellt bei 187 Menschen, die der Strahlung ausgesetzt gewesen waren (alle gehören dem Personal des Kraftwerks an), davon sind 24 Menschen gestorben (zwei Menschen starben im Augenblick des Unfalls). Die Diagnose der Strahlenkrankheit für die hospitalisierten Menschen, einschließlich der Kinder, hat sich nicht bestätigt.“
Wenn man an der Belastung nichts ändern kann, muß man eben die Grenzwerte verändern. Der Schlüssel für die Verharmlosung findet sich in den geheimen Akten der Operativgruppe. „Vertraulich. Protokoll Nr. 9. Mai 1986. (...) Das Gesundheitsministerium der UdSSR hat neue Normen erlassen, wonach die zulässigen Höchstwerte für eine gesundheitsverträgliche Strahlung um das Zehnfache erhöht werden. In besonderen Fällen dürfen diese Werte auf das 50fache erhöht werden.“ Auf diese Weise erholten sich Tausende Landsleute am 8. Mai 1986 blitzschnell, ohne jede Behandlung und Medikamente.
Einige Jahre nach dem Unfall mußte Akademiemitglied L. I. Iljin, der Verfechter des berüchtigten Konzepts „35 BER Strahlenbelastung in siebzig Jahren Lebenszeit“, in einer Parlamentsrede einräumen: „Wird diese Norm auf 7 BER während 35 Lebensjahren gesenkt, dann müßten wir statt 166.000 Menschen etwa zehnmal so viele umsiedeln. Die Gesellschaft sollte alle Risiken und Vorteile eines solchen Vorgehens gegeneinander abwägen.“ (Erst bei über 35 BER Lebenszeitbelastung hatten die sowjetischen Behörden eine Umsiedlung vorgesehen. Ein BER entspricht in etwa einem REM. In der Bundesrepublik liegt die erlaubte Strahlenbelastung der Bevölkerung bei 30 Millirem im Jahr, also 2,1 REM über 70 Jahre Lebenszeit, d. Red.)
Lüge Nr. 2: Saubere Produkte von verstrahlten Böden
Die Protokollnotizen können an dieser Stelle weitgehend für sich stehen. „Protokoll Nr. 32. 22. August 1986. (...) Zu berücksichtigen: Die Information des Genossen Murakowski, V. S., (Landwirtschaftsminister): ... (Anhang) Nach der Verarbeitung von Vieh aus dem Gebiet mit radioaktiver Verseuchung durch das Atomkraftwerk Tschernobyl enthält ein Teil des verarbeiteten Fleisches radioaktive Substanzen in Mengen, die die zulässigen Werte übersteigen. Zur Zeit liegen in den Kühlhäusern der fleischverarbeitenden Industrie in zahlreichen Gebieten der weißrussischen SSR, der ukrainischen SSR und der russischen Förderation etwa 10.000 Tonnen verseuchtes Fleisch auf Lager, mit Werten zwischen 1,1 x 10-7 Curie (4.100 Bequerell) pro Kilogramm bis zu 1,0 x 10-6 Curie (37.000 Bequerell) pro Kilogramm; im August/September ist nach der Verarbeitung mit weiteren 30.000 Tonnen verseuchtem Fleisch zu rechnen.“
„Um zu vermeiden, daß sich durch den Verbrauch verseuchter Nahrungsmittel bedenkliche Mengen radioaktiver Substanzen im menschlichen Körper ansammeln, empfiehlt das Gesundheitsministerium der UdSSR daher, das mit radioaktiven Substanzen verseuchte Fleisch so breit als möglich über das ganze Land zu verteilen und bei der Produktion von Wurst und Dosenfleisch im Verhältnis von 1:10 mit normalem Fleisch zu mischen.“
Man kann natürlich auch die Grenzwerte heraufsetzen. Ein weiterer Anhang zu Protokoll Nr. 32: „Die neuen Normen für zulässige Werte des Gehalts radioaktiver Substanzen in Milch treten am 1. August im Gesamtgebiet der UdSSR in Kraft. Sie betragen 1 x 10-8 Curie (370 Bequerell) pro Liter. In bestimmten Gebieten der weißrussischen SSR enthält jedoch ein Teil der verarbeiteten Milch noch immer radioaktive Substanzen in einer Größenordnung von 1 x 10-7 Curie (3.700 Bequerell) pro Liter und entspricht nicht den empfohlenen Normen, was die reibungslose Versorgung der Bevölkerung dieser Gebiete mit Milch erschwert. N. Burgasow.“
Nur fünf Jahre nach dem Unfall erhob die Staatsanwaltschaft der UdSSR nach wiederholten Aufforderungen durch Abgeordnete Anklage wegen Herstellung „schmutziger“ Produkte. Und dies berichtete V. Andrejew, Vizegeneralstaatsanwalt der UdSSR, vor der parlamentarischen Kommission: „... Zwischen 1986 und 1989 sind in den erwähnten Gebieten 47.500 Tonnen Fleisch und 2,0 Millionen Tonnen Milch hergestellt worden, die die zulässigen Grenzwerte überschritten... Allein aus Weißrußland wurden 15.000 Tonnen exportiert, die mit Radionukliden verseucht waren. Die aufgeführten Beispiele hatten praktisch im ganzen Land die radioaktive Verseuchung von Nahrungsmitteln zur Folge und können sich nachteilig auf die Situation der öffentlichen Gesundheit auswirken.“
Lüge Nr. 3: Über die Presseerklärungen
Die Presse war von den Sitzungen der Operativgruppe des Politbüros ausgeschlossen. Nur am 26. Mai (Protokoll Nr. 18) wurden die Chefredakteure zentraler Zeitungen eingeladen. Sie erhielten eine Instruktion: „Die Hauptaufmerksamkeit sollte den Maßnahmen der KPdSU und der Regierung gelten, mit denen die normalen Arbeits-, sozialen und Lebensbedingungen der Evakuierten gewährleistet werden, zur Versiegelung des Kraters und der Beschleunigung der Aufräumarbeiten sowie in gebührender Breite der aktiven Beteiligung des werktätigen Volkes an ihrer Durchführung.“
Fast jedes Sitzungsprotokoll enthielt auch einen Absatz über die Information – für Presse, Fernsehen, Pressekonferenzen. Alle Texte mußten gewöhnlich genehmigt werden, ebenso wie das genaue Veröffentlichungsdatum. Von besonderem Reiz ist hier das erste Protokoll der Operativgruppe: „Vertraulich. Protokoll Nr. 1. 29. April 1986. (...) Zu den Presseerklärungen der Regierung. Das Nachrichtenbulletin der Regierung für die Presse sollte genehmigt werden. Der Text der Information für einige Führer kapitalistischer Staaten betreffend den Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl und die eingeleiteten Maßnahmen für die Aufräumarbeiten muß genehmigt werden. Der Text für einige Führer sozialistischer Länder betreffend die Fortschritte bei den Aufräumarbeiten im Atomkraftwerk Tschernobyl muß genehmigt werden.“
So einfach ging das. Ein bißchen Information, genauer Desinformation, für den Hausgebrauch, eine zweite für Freunde im sozialistischen Lager und die dritte für die „verfluchten“ Kapitalisten.
Apropos Kapitalisten: „Vertraulich. Protokoll Nr. 7. 6. Mai 1986. (...) Gebilligt wird der Vorschlag des Gesundheitsministeriums der UdSSR über die Ratsamkeit der Veröffentlichung der Angaben über Menge und Gesundheitszustand der Patienten im Krankenhaus Nr. 6 in Moskau, weil in diesem Krankenhaus einige Amerikaner arbeiten.“
Das Politbüro komponierte ein Bild für die Öffentlichkeit. Andere Bilder waren nicht erlaubt, wie zum Beispiel das Bild von N. Matukowski, Istwestja-Reporter in Minsk: „An Teletypisten. Dieses Telegramm sollte nur dem Chefredakteur vorgelegt werden. Die Kopie ist zu vernichten. (...) Ich berichte zu Ihrer Information, daß sich die radioaktive Situation in Weißrußland beträchtlich verschärft hat. In vielen Teilen der Region Mogiljew lag die radioaktive Verseuchung deutlich über dem Stand der Gebiete, über die ich geschrieben habe. Nach allen medizinischen Richtlinien beinhaltet das Leben in diesen Gebieten ein großes Risiko für die öffentliche Gesundheit. (...) Ich benutze Telex, da hier alle Telefongespräche über dieses Thema verboten worden sind. 8. Juli 1986. N. Matukowski.“
Das alarmierende Telegramm des Reporters wurde an die Operativgruppe des Politbüros weitergeleitet. Dort wurde darüber beraten und entschieden, alles solle „überprüft und die Ergebnisse bis zum 20. Juli 1986 an die Operativgruppe übermittelt werden“. Das Thema kam bei den Sitzungen niemals wieder zur Sprache.
Pressekonferenzen für sowjetische und ausländische Korrespondenten wurden immer solide vorbereitet. „Vertraulich. 4. Juni 1986. (...) Anhang zu Protokoll Nr. 21. 2. Zu den Fortschritten bei den Aufräumarbeiten im Atomkraftwerk Tschernobyl... Die umfangreichen Maßnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit sollten beschrieben werden; besonders ist hervorzuheben, wie man sich um die Menschen gekümmert hat, die in den verseuchten Gebieten leben. (...) 4. Hervorgehoben werden sollte die Unhaltbarkeit der Behauptungen und Einschätzungen sowohl von offiziellen Vertretern als auch der Presse westlicher Staaten, wonach die Verbreitung kleiner Mengen radioaktiver Substanzen aus Tschernobyl durch die Luft beträchtliche ökologische und materielle Schäden verursacht habe.“
Wenn das Politbüro hier von kleinen Mengen spricht, muß man das relativieren. Die kleinen Mengen entsprachen allein beim radioaktiven Cäsium 137 der Belastung durch 300 Hiroshima-Bomben. Und die unbeträchtlichen Schäden werden sich nach der Schätzung unabhängiger Fachleute – in Preisen von 1989 – bis zum Jahr 2000 auf 180- bis 200.000 Millionen Rubel belaufen. Und in diesen Schätzungen sind die Verluste aufgrund der Krankheiten von Tausenden und Abertausenden Menschen nicht enthalten.
Weitere Lügen
Diese Liste könnte verlängert werden. Lüge Nr. 4 – Über die Beteiligung der Armee an den Aufräumarbeiten; Lüge Nr. 5 – Über die Ansiedlung von Slavutich, einer neuen Stadt für Atomarbeiter, auf Cäsium-verstrahltem Gelände; Lüge Nr. 6 – Über die Personalpolitik und die Ausbildungsarbeit im Atomkraftwerk Tschernobyl nach dem Unfall, etc.
Neue Geheimakten haben eine alte Wahrheit enthüllt: Um zu überleben, muß das System Böses tun und seine Taten verbergen. Angefangen mit dem Geheimnis um die Erschießung von Kindern, deren Schuld lediglich darin bestand, in die Familie des Zaren geboren zu werden. Das System erschoß Millionen ohne Verfahren, hielt uns in Konzentrationslagern und psychiatrischen Krankenhäusern gefangen. Das System war es, daß unsere Soldaten in Afghanistan in den Tod führte, Kampfgas in Tbilissi einsetzte, Panzer in Baku und Vilnius... Die Katastrophe von Tschernobyl ist wie ein langsamer Tod durch radioaktive Vergiftung; sie gehört in die Reihe der Verbrechen des Systems am eigenen Volk, das es über Jahrzehnten tötete wie die Medusa ihre Kinder verzehrte. Wie bekannt, war die Medusa nur auf eine Art zu besiegen: indem ihr das Haupt abgeschlagen wurde.
Aus dem Englischen von Meinhard Büning
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