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Alte Transparente, aktuelle Reden

■ Diätassistentinnen, PostlerInnen und KurdInnen auf der Straße / Zwei Stunden Umzug

Mann mit Kind

auf Demo

Zwei Stunden politisch sein, und dann nix wie hin, zum Cafe Sand in die SonneFoto: Katja Heddinga

Dreitausend GewerkschafterInnen sind am Samstag vom Sielwall zum Markplatz gezogen, lauschten dort drei kurzen Reden und hatten um 11.55 Uhr schon wieder frei. Irgendwie schade, fand das dicke portugiesische Ordner-Ehepaar, dem die Samba- Gruppe mit dem Vorpfeifer so gut gefallen hatte.

Trotz der jüngsten Vorstöße der Unternehmer: Kaum ein Transparent bezog sich auf die Bedrohung der Tarifautonomie. Die meisten Gruppen trugen die bekannten Statements vor sich her: Die Diätassistentinnen forderten eine bessere Eingruppierung, die StraßenbahnerInnen sagten „Nein danke“ zur BSAG-Privatisierung, und eine Familie zeigte mit ernster Miene ihr kleines Schild „Eritrea ist frei“, während der kurdische Männerblock ein „Hoch die internationale Solidarität“ über den Domshof brüllte. Die anschließenden PostlerInnen machten sich für die Gleichberechtigung von Frau und Mann

stark. Und die ZeitungszustellerInnen wollten endlich gleiche Tarifrechte für alle. Ganz am Schluß schob die Weidedamm-Initiative blumengefüllte Schubkarren. „Der 1.Mai ist für alle da“, war ihr Flugblatt überschrieben.

So verschieden die Anliegen, so verschieden die Gangart: beim GEW trottete man in lockeren Familien- und Freundschaftsverbänden quer über die ganze Straße einher. Die DGB-Frauen marschierten frohgemut vorneweg unter dem seit Monaten umstrittenen Motto „Frau geht vor“. Ein Kurdenblock marschierte mit Disziplin und hielt strikt 20 Meter Abstand zu den Vorgängern. Übermüdet wirkten nur die PDSlerInnen, hatten auch kein aktuelles Flugblatt dabei; eins über die „soziale Grundsicherung“ tat es auch. Das einzige knitterfrei straffe Transparent, wohl aus Plastik, trug übrigens der Reichsbund.

Aus dem Rahmen fiel der Beitrag der Gruppe „Moses 3“: Dunkel Gekleidete baten die Demo

-TeilnehmerInnen um eine Spende für die „Kriegsgräbervorsorge“ - „Wir wollen für unsere jungen Kollegen vorsorgen“, sagten sie. Ein sarkastischer Protest gegen die Befürwortung von Out- of-area-Einsätzen der Bundeswehr durch die DGB-Spitze. Aktuell auch das Transparent „Ein Rappe keilt aus, wenn ihm der Stallgeruch fehlt — uns stinkt der Sozimief.“

Während sich der Marktplatz mit den Dreitausend füllte, sah man an den Rändern TouristInnen schnell noch das Rathaus fotografieren, bevor das schöne Motiv dahin war. In einer Ecke etwa der Filialdirektor der Deutschen Bank mit seinem Besuch. Neinnein, wehrt er ab, zur Demonstration gehöre er nicht. „Aber mehr als ein Schützenfest ist das ja doch nicht.“

Ganz anderer Meinung waren da die drei RednerInnen. Bremens DGB-Vorsitzende Helga Ziegert etwa forderte höhere Steuern für die, die nicht in Arbeitsplätze investieren. Schließlich gebe es noch genug zu tun, allein wenn sie an den Pflege- oder den Umweltbereich denke.

Ejvas Stki vom Dachverband ausländischer Kulturvereine forderte das allgemeine Wahlrecht und die doppelte Staatsbürgerschaft. Als Mazedonier nahm er außerdem zum Krieg in Jugoslawien Stellung: Kein Pardon mehr für Waffenstillstandsbrecher.

Gegen den Sozialabbau wetterte vor allem Peter Sörgel, Betriebsratsvorsitzender bei Klöckner. Wie PolitikerInnen die „Bodenhaftung“ verloren haben, belegte er an einem lokalen Beispiel: der dritten Weserbrücke für die „Privilegierten“. Gleichzeitig würden Stadtteile wie Gröpelingen und die Vahr vernachlässigt.

Was die Transparente vermissen ließen, stellte Sörgel heraus: die aktuelle Bedrohung der ArbeitnehmerInnen durch den Tarifvertragsbruch im Osten. Man müsse auch hier Solidarstreiks durchführen, schlug er vor. Mehr denn je gelte der Spruch: „Die Gewerkschaften sind das Stärkste, was die Schwächsten haben“. Dabei müsse man sich durchaus auch streiten, aber doch nicht, wie der DAG, eifersüchtig die Kammern in Frage stellen.

Währenddessen sannen vor dem Deutschen Haus zwei Herren, ein Angestellter und ein Privatier, beim Bier den alten Zeiten nach. Damals, als es noch richtige Arbeiter gab, sagte der eine, damals, als wir sternförmig von Sebaldsbrück zusammenkamen, gegen die Wiederbewaffnung, da mußte jeder mit. Damals, als der Vater bei Borgward war, fuhr man nach der Demo zur Lesum- Brücke und klapperte dann bis zum „Grauen Esel“ die Kneipen ab. Ach damals, so der andere, da ging es den Leuten ja nicht gut.

Und die Politiker und Funktionäre? Die hatten ihre Pflicht zumeist schon am Vorabend, im pompösen Congress-Centrum erledigt. Christine Holch

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