: "Ein Zustand der Ratlosigkeit"
■ Die Bürgerschaftswahl von 1991 muß wiederholt werden / Mehr Fragen als Antworten nach dem sensationellen Urteil des Hamburger Verfassungsgerichts / Wahltermin voraussichtlich im Herbst / voscherau macht...
/ Mehr Fragen als Antworten nach dem sensationellen Urteil des Hamburger Verfassungsgerichts / Wahltermin voraussichtlich im Herbst / Voscherau macht auf zuversichtlich
Rolf Kruse, Chef der Hamburger CDU-Bürgerschaftsfraktion war sichtlich irritiert: „Haben wir überhaupt noch das Recht, uns selber aufzulösen?“ Und sein Parteichef Dirk Fischer assistierte eilfertig: „Es gibt eine erhebliche Unsicherheit, einen Zustand der Ratlosigkeit.“ So isses. Hamburgs Politikerkaste präsentierte sich gestern nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zur Ungültigkeit der Bürgerschaftswahlen von 1991 in einem recht konfusen Zustand.
Fragen, Fragen, Fragen: Wann wird gewählt? Was geschieht bis dahin? Darf eine Bürgerschaft, die nicht rechtmäßig gewählt wurde, jetzt überhaupt noch Entscheidungen treffen. Was ist mit den in den vergangenen zwei Jahren getroffenen Beschlüssen? Alles ungültig? Werden einzelne Abgeordnete gegen den Gerichtsbeschluß Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe einlegen? Und wie lange wird die neugewählte Bürgerschaft im Amt sein? Vier Jahre, wie üblich? Oder zwei Jahre, also bis zur turnusgemäßen Bürgerschaftswahl 1995?
Antworten wird es wohl erst in der kommenden Woche geben, wenn die schriftliche Urteilsbegründung des Verfassungsgerichts vorliegt. Bis dahin darf spekuliert werden.
Zum Beispiel vom Notar Henning Voscherau, der gestern in seiner Funktion als Erster Bürgermeister vor die Presse trat und sich bemühte, ein wenig Licht ins juristische Rathaus-Dunkel zu bringen. Die Wahlen, so der Senatschef,
1könnten formal frühestens am 4. Juli stattfinden, allerdings nur, wenn das Verfassungericht noch bis zum Ende dieser Woche in allen fraglichen Punkten Klarheit schaffe. Wahrscheinlicher sei ein Wahltermin nach den Sommerferien.
Voscherau geht auch davon aus, daß die bisher getroffenen Entscheidungen der Bürgerschaft trotz der verfassungswidrigen Parlamentswahlen Bestand haben. Schließlich seien auch einige Verfas-
1sungsrichter von dieser Bürgerschaft gewählt worden. Seien deren Entscheidungen ungültig, dann auch die Einsetzung der Verfassungsrichter, damit das gestern gefällte Urteil undsoweiterundsofort. Alles klar?
Eins auf jeden Fall. Wahlkampf ist angesagt und zwar sofort. Henning Voscherau ließ sich dann auch nicht lange bitten. Er stehe als SPD-Spitzenkandidat zur Verfügung: „Wenn meine Partei es will, werde ich keine Zicken machen.“ Und auch das Wahlziel wird gleich mitformuliert: Eine absolute Mehrheit der SPD und zwar mit mehr als einer Stimme, trotz Engholm-Rücktritt und alledem.
Soweit ist man in Hamburgs CDU noch lange nicht. Ein Spitzenkandidat ist weit und breit nicht in Sicht und so bemühte sich Parteichef Dirk Fischer gestern erst einmal um Schadensbegrenzung, schließlich ist es die Union gewesen, deren undemokratisches und vor wenigen Wochen bereits geändertes Kandidatenaufstellungs-Verfahren die Wiederholungswahl nötig macht. „Wir werden das Urteil akzeptieren, unseren Abgeordneten nicht empfehlen, Widerspruch beim Bundesverfassungsgericht einzulegen.“ Und: „Sollten jetzt weitere Korrekturen an der CDU-Satzung nötig sein, werden diese unverzüglich erfolgen.“
Immerhin, ein wenig Klarheit schaffte gestern auch die Union. Justitiar Ole von Beust, der die Union in dem Verfassungsprozeß vertreten hatte, geht davon aus,
1daß die nächste Bürgerschaft nur bis 1995 ein Mandat hat. Schließlich handele es sich um eine Wiederholungswahl, nicht um eine Neuwahl.
Um derlei juristische Spitzfindigkeiten mochten sich die beiden kleineren Parteien gestern gar nicht kümmern. GAL-Fraktionschef Martin Schmidt, dessen Abgeordnetenmandat bei der fälligen grünen Kandidatenkür keineswegs gesichert sein dürfte, jubelte: „Wir freuen uns über das Urteil des Hamburger Verfassungsgerichts. Die Demokra-
tie hat einen großen Sieg errungen.“
Und auch bei der FDP, deren
1Rückkehr ins Parlament wie immer am seidenen Faden hängen dürfte, freute sich in Gestalt ihres Fraktionsvorsitzenden: „Für die FDP ist die Neuwahl die willkommene Chance, einen politischen Neuanfang für Hamburg zu gestalten....“ Mit einem Vorschlag der besonderen Art wagte sich auch Parteichef Robert Vogel schon mal aufs Wahlkampfeis: „Die Kosten der Neuwahl soll die Union bezahlen. Den Wählern empfehle ich, mit dem Taxi zum Wahllokal zu fahren und die Rechnung den Christdemokraten zu schicken.“ Uli Exner
Siehe auch Seite 3 und 10
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