Famoses Drecksstück

Er kann vom Gift des Applauses noch immer nicht lassen: Seit gestern ist Frank Sinatra wieder einmal auf Abschiedstournee, für fünf Konzerte auch in Deutschland. Give him a Wunderkerze!  ■ Von Arne Fohlin

Fett sieht er auf dem Konzertplakat aus, feist das Gesicht, in dem die Spuren jahrzehntelangen Drogenkonsums kaum zu übersehen sind. Und doch: Frank Sinatra, Säufer, Kettenraucher, Hurenbock und Sänger, ist der einzige Graue Panther im Show-Business, der immer noch für satte Umsätze gut ist. Seit Wochen werden die Vorverkaufsstellen – zwar nicht gerade bestürmt von Fans, die ein Ticket für eines der fünf Konzerte in Deutschland ergattern wollen; aber voll werden die Hallen oder (wie in Hamburg) Freiluftarenen allemal. „Ol' blue eye“ ist mancherorts sogar „the talk of the town“.

Dabei kam der breite Durchbruch hierzulande spät. Nicht der Titelsong eines schlechten Films, der ihm Ende der siebziger Jahre einen (von Liza Minelli übernommenen) Evergreen bescherte – „New York, New York“, diese Schlagerhymne der Gesamtprovinz auf die individualtouristischen Verlockungen der Millionenstadt („I wanna be a part of it“) –, nicht so sehr das spießig-süßliche „My Way“, diese harmlose Pseudoabrechnung eines älteren Herrn mit den Sünden- und Sudelfällen des Lebens, die doch im vorgerückten Alter gülden, fast als praktische Übungen auf Weisheit erscheinen, nein, eher die Sophisticated Eighties, die moderate Inszenierung eines Jahrzehnts als Luxus, Glamour und Dreck, die Kultur der Barmusik verhalf einem Mann wie Frank Sinatra zum Kultstatus. Sinatra ist den Deutschen mittlerweile die singende, männliche Barbiepuppe, die sie verdienen.

„The Voice“, wie Sinatra in den USA seit Jahrzehnten genannt wird, mag derlei Rezeptionsfolklore gleichgültig bleiben. Aus seiner Heimat, erzählte er vor Jahren, sei ihm auch die Sitte unbekannt, daß während seines Vortrags von „My way“ aus dem Publikum brennende Feuerzeuge oder Wunderkerzen hochgehalten werden. Aber wenn dem Mob im Parkett danach ist, jedes langsame Liedchen zum Anlaß von Sentimentalität und Weinerlichkeit zu nehmen, sei ihm das nur recht. Zum Geld, zum gefüllten Jackpot einer fast ausverkauften Tournee, hatte Sinatra immer ein völlig unverspanntes Verhältnis. Da hält er auch gerne damit hinterm Berg, was er von den Deutschen hält: nämlich fast gar nichts.

Dort, wo Sinatra aufwuchs, in Hoboken – einer trostlosen Hafenstadt, die als größte Sehenswürdigkeit den stellenweisen Blick auf die Skyline New Yorks zu bieten hat –, sammelte er erste Erfahrungen mit den „Krauts“: Sie gaben dort den Ton an, nicht seine Leute, Nachfahren von Sizilianern. Der Erste und der Zweite Weltkrieg bestärkten ihn nur zu sehr in der Auffassung, sich mit einer Kultur der Korrektheit und Anständigkeit lieber nicht zu heftig einzulassen: Prinzipienlosigkeit, Ellenbogenstärke, die fast völlige Abwesenheit von Moral gehören eher zu seinem Charakterprogramm. Glänzende Voraussetzungen für einen American Hero – wie sich später herausstellen sollte.

Der Mann, den die Deutschen heute mögen, als wär's ein Tröster geschundener Seelen, verkörpert – die Biographie liegt offen –, Eigenschaften, die in Deutschland ganz andere Ausprägungen fanden. Sinatra, der sich als Boxer und Journalist versuchte, ehe er als Mitglied der Amateurkapelle „The Hoboken Four“ zu ersten Erfolgen kam, brachte über fünf Jahrzehnte eine Karriere hinter sich, die ohne gelegentliche Dienste der Mafia, der Politik, ohne Show und Schmiere nie so glamourös verlaufen wäre.

Höhepunkt war jedoch der 12. Oktober 1944. Amerikas Soldaten kämpften gegen die Nazis, für den „way of life“ ihrer Nation – und Sinatra emphasierte derweil die Heimat. Dreißigtausend wimmernde, schreiende, leidende, um Sex buhlende Teenager (die damals noch nicht so hießen) belagerten am New Yorker Times-Square das Paramount-Kino. Zwischen den Vorstellungen stand Sinatra auf der Bühne, provozierte Ohnmachtsanfälle und feuchte Höschen – entweder weil die Frauen keiner Konkurrentin den Sitzplatz gönnen wollten – also ein Gang zur Toilette sich von selbst verbot –, oder weil mit vielen von ihnen die „Night- and Daydreams“ durchgingen: Sinatra war der erste Popstar der (nichtklassischen) Musikgeschichte, ein Entertainer, der die Wünsche des Volks nach Sex, Sex und Sex, nach den Befindlichkeiten davor und danach ernst nahm – und darüber hinaus mit angerauhtem Timbre und wunderschön eleganten Phrasierungen, aber ohne Kitsch Auskunft gab über die Probleme des einsamen, männlichen Großstädters.

Als Botschafter heimlicher Sehnsüchte ist Sinatra objektiv der Vater Michael Jacksons. Die Zeiten waren günstig für Italo-Amerikaner, Schwarzen wie Billie Holiday oder Luis Armstrong blieben die Sperrsitze vorbehalten. Sinatra, der damals mit dem Orchester Tommy Dorsey zusammenarbeitete, kam aber auch eine technische Neuerung zu Hilfe: Er brauchte nicht mehr aus dem Orchestersound heraus zu grölen, mühelos nutzte er die neue Technik: das Mikrophon. In selbiges konnte er hauchen, so etwas wie Baratmosphäre entfalten, eine Intimität, die perfekt die Illusion bediente, allein mit ihm zu sein, verführerisch, apart, dezent, nicht vordergründig geil, dafür – besser, viel besser! – den Sehnsüchten nach der Ewigkeit im „One-Night- Stand“ Zucker gebend.

Seit damals hält sich Sinatra an der Spitze der Branche. Nur Anfang der Fünfziger, als der Rock 'n' Roll – der Zweite Weltkrieg war historisch abgebucht – die Jugend zucken und hüftwackeln ließ, hatte er einen saftigen Karriereknick: Sinatra begann seinen Weg als Anti- Rock'n'Roller – mit Rock'n'Roll-Lebensstil. Die prüde Presse verübelte sowohl die ruchbar gewordenen Sex-Eskapaden, sein legendäres, von Frauen wie Lauren Bacall oder Kim Novak gepriesenes Können als Flachleger. Der amerikanische Zeitgeist schätzte inzwischen – es waren die harten Zeiten McCarthys – viel eher das Bild der guten amerikanischen Familie. Auch schätzte man Sinatras Sympathien für Demokraten wie Roosevelt (oder später Kennedy) nicht gerade, war das doch den Mühen des Antikommunismus so eklatant entgegengesetzt, daß erst Ava Gardner Sinatra eine Filmrolle (in „Verdammt in alle Ewigkeit“) verschaffen mußte, um das Comeback möglich zu machen.

In der Rolle eines ehrpusseligen, herzensguten Soldaten spielte Sinatra sich in die Herzen des Publikums zurück – Amerika mag solche Schicksale nun mal, Sinatra: seither ein Mythos, ein fleischgewordenes Märchen. Skandale produzierte er weiter, beschimpfte weibliche Journalisten als Nutten und bedrohte männliche Schreiberlinge mit seinen guten Kontakten zur Cosa Nostra; er verschenkte goldene Uhren, finanzierte Krankenhäuser für Arme, verjubelte in einer Nacht Hunderttausende von Dollar. Kein Zweifel: So sieht ein echter Kerl aus, ein Alkoholiker von Gottes Gnaden, fleischgewordene Gosse.

Seine deutschen Sympathisanten, Rolex-bewehrt und Escada- gewandet, bekommen nun nur die Altersversion zu sehen: ein Mann, der seine brüchig gewordene Stimme nicht zu sehr strapaziert, Silben dehnt und oft beim Singen spricht: Sinatra, das famose Dreckstück mitten aus dem Mainstream der amerikanischen Volkskultur, ein Typ, der sich um „political correctness“ zeitlebens einen Dreck geschert hat, weil er nur ein Credo gelten ließ: nie mehr dienern müssen, nie mehr arm sein. Hat so einer es nötig, auch nur um eine einzige Wunderkerze zu flehen?

Vielleicht ja doch. Schon vor zwanzig Jahren versprach er eine Abschiedstournee. Seitdem gibt er im olympischen Zeitmaß letzte Gastspiele. Und das erinnert an eine Sängerin, die auch nicht die Finger lassen konnte vom Gift des Applauses – und am Ende auf die Bühne fast mit dem Rollstuhl geschoben werden mußte: Sinatra – die amerikanische Variante der Zarah Leander?

Ein fieser Vergleich, denn fest steht gewiß, daß Sinatra der nazifreundlichen Schwedin eines voraus hatte: Entertainen konnte er immer schon besser.

2.6. Hamburg, 3.6. Berlin, 5.6. Stuttgart, 6.6. Köln