: Festgottesdienst mit Pfeifkonzert
■ Kohls erster Auftritt nach Solingen ging im Protest unter
Als der Bläserchor das „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ zur Begrüßung der Feiergäste erklingen ließ, vermengten sich die Akkorde mit dem gellenden Pfeifen von 200 Demonstranten zu einer Kakophonie, die die Luft über dem Berliner Dom erfüllte. 1.500 Gäste waren gestern morgen geladen, um der Wiedereinweihung der ehemaligen deutschen „Hauptkirche des Protestantismus“ beizuwohnen – unter ihnen Helmut Kohl.
Seinen ersten öffentlichen Auftritt nach Solingen nahmen die Zweihundert zum Anlaß, ihn lautstark einen „Feigling“ und „Mörder“ zu schimpfen. Während die Bläser „Tu auf du schöne Pforte“ intonierten, wurde die Zufahrt zum Dom aus Sicherheitsgründen abgeriegelt. Obgleich 280 Polizisten zur Schutz der Gäste im Einsatz waren, waren zuvor einige Limousinen von Eiern getroffen worden. Der Bundeskanzler mußte eine Seitenzufahrt für seinen Weg zum Haupteingang nutzen. Begleitet vom Regierenden Bürgermeister Berlins, Eberhard Diepgen, und dessen Ehefrau Monika stieg er die Stufen zum Hauptportal empor, sichtlich ergrimmt über die „Heuchler, Heuchler“- Rufe, die ihn von jenseits der Absperrung empfingen. Seine Miene wollte sich auch nicht aufhellen, als Diepgen ihn jovial über den Empfang, der „etwas zu laut“ sei, hinwegzutrösten versuchte. Im Gegenteil, Kohls Gesicht schwoll auf eine Röte, die an seinen legendären Auftritt in Halle erinnern ließ, als am oberen Ende der Treppe drei Demonstranten ein Transparent entrollten und ein „Die Brandstifter sitzen in Bonn“ ihm für Sekunden den Weg versperrte. Sie hatten sich als Chormitglieder getarnt unter die Festgemeinde gemischt. Statt des Kanzlers griffen diesmal seine Sicherheitsbeamten zu und warfen die „Heuchler“ und „Mörder“ Skandierenden kurzerhand die Treppe runter.
Dann konnte der Bundeskanzler die Kirche betreten und neben dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, Diepgen und dem katholischen Bischof Georg Sterzinsky in der ersten Reihe Platz nehmen. „Ich wollte sie, Herr Bundeskanzler, eigentlich nicht begrüßen“, begrüßte ihn Domprediger Martin Beer zu Beginn des Gottesdienstes. „Aber nach dem da draußen tu ich es.“ An die Demonstranten, die seine Worte über eine Lautsprecheranlage hören konnten, appellierte Beer, wenn schon nicht dem Regierungschef, dann der Person Kohl die „Stunde des Dankes gegen Gott“ zu gönnen. Doch die Menge gönnte an diesem Morgen dem Kanzler nichts. Sein Grußwort, in dem dieser seiner „großen Freude“, der Einweihung beizuwohnen, Ausdruck gab, wurde wiederum von einem Pfeifkonzert begleitet, daß auch nicht abebbte, als er befand, „es gibt keinen Ausstieg aus der Geschichte“, „wir können uns die passende Epoche nicht aussuchen“. Der Kanzler verwahrte sich dagegen, daß die Geschichte verkürzt werde auf die Zeit zwischen 1933 und 1945.
Nach dem Einweihungsgottesdienst wurden die 1.500 Gäste beim Verlassen des Domes wiederum von „Heuchler“-Rufen der mittlerweile auf 400 angeschwollenen Protestgemeinde empfangen. Kohl entschwandt durch einen Seitenausgang zu seinem Auto. Er verzichtete auf die Teilnahme an einem Empfang vor dem Kirchengebäude, obgleich dort, wohl ihm zu Ehren, Pfälzer Saumagen mit Bratkartoffeln serviert wurde. Kurz vor der Abfahrt auf die Proteste angesprochen, bezweifelte er, daß Solingen der Anlaß gewesen sei. Denn er wisse, so der Kanzler über die Demonstranten, „wer die hierhergekarrt hat“. Dieter Rulff, Berlin
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen