: „Will man uns verhungern lassen?“
In der bosnischen Hauptstadt gibt es weder Strom noch Gas / Die Lebesmittelvorräte sind fast aufgebraucht / Serbische „Straßenräuberei“ verschärft die Versorgungskrise ■ Aus Sarajevo Erich Rathfelder
Die Straße, in der Aida B. wohnt, ist übersät von Löchern, wie sie Artilleriegranaten hinterlassen. Kaum 5 Zentimeter tief erscheinen die Einschläge harmlos, erst die Spuren an den Häuserwänden zeugen von der verheerenden Wirkung der Schrapnells, deren Splitter nach dem Zerbersten einen weiten Raum bestreichen. Menschen, die sich in Reichweite befinden, haben kaum Überlebenschancen. Aidas Haus liegt in der Nähe des Hotels Holyday Inn, die Gerippe der beiden Hochhäuser zeugen von den Artillerieangriffen des Vorjahres. Bei einer Querstraße fängt Aida an zu rennen. Die Einschüsse in dem Haus rechterseits zeigen auf, daß diese Stelle sehr gefährlich ist. Hinter den schützenden Mauern ihres Wohnhauses lungern einige Jugendliche und spielen Karten.
Das Treppenhaus ist unbeschädigt, an der Tür wird geklopft. Die Klingel geht nicht mehr. „Seit Monaten haben wir nun keinen Strom mehr, kein Wasser, kein Gas“, sagt Aidas Vater, der die Gäste mit einem breiten, freundlichen Lächeln empfängt. Die Möbel sind zerschlissen, doch die Wohnung blitzt vor Sauberkeit. „Hier, im Wohnzimmer brachten wir, die ganze Familie, neun Personen, den Winter zu.“ Der Blick über die leeren Bücherregale erklärt, womit sich die Familie wärmte. Jetzt im Sommer sei schon alles leichter, meint unser Gastgeber. Lächelnd deutet er auf die neueste Ausgabe der Zeitung Oslobodjenje, wo in breiten Lettern verkündet wird, daß eine Frauenmannschaft aus Sarajevo bei einem Baskettballturnier in Frankreich gegen die „härteste internationale Konkurrenz“ die Goldmedaille gewonnen hat.
Unsere Geschenke werden dankbar angenommen. Seit einer Woche habe die Familie nichts mehr an „Pomoć“, an Lebensmitteln erhalten. Die Rationen würden jetzt gekürzt, erklärt die Schwägerin Aidas, eine Kroatin, die vor vier Wochen ein Baby bekommen hat. Sie wollte das Kind, es ist ein Zeichen für die Zukunft. Doch auf diese zu vertrauen, wird ihr immer schwerer. Gerüchte schwirren in der Stadt herum. Die UNO-Hilfsorganisation UNHCR sei nicht mehr in der Lage und auch nicht mehr willens, genügend Lebensmittel in die Stadt zu schaffen. „Wir hatten schon wenig genug, will man uns verhungern lassen?“ Die Nachricht, daß auch im zentralen Bosnien, in Zenica und Tuzla, schon gehungert wird, verfestigt eine alte These von Vater B.: „Militärisch haben sie uns noch nicht besiegt, jetzt wollen sie uns mit dem Hunger mürbe machen. Und mir scheint, die UNO macht da mit.“
Serbische Wegezölle
Wieder auf der Straße hören wir das Krachen von Artilleriegranaten, entdecken Rauch. Ein Haus auf der anderen Seite des Holiday Inn ist in Brand geraten. Nichts besonderes in Sarajevo: Die Jugendlichen sind unbeeindruckt in ihre Karten vertieft, die meisten Fußgänger blicken nicht einmal mehr auf. Viele Menschen sind auf den Straßen, Kinder spielen in den Ruinen. Nach zehn Minuten Fußmarsch biegen wir in eine Straße ein, wo noch Bäume Schatten spenden. „Viele Bäume wurden im letzten Winter gefällt, hier jedoch haben die Nachbarn sie geschützt“, erklärt Aida. In Straßencafés sitzen Leute, nippen an einem Saft vom Schwarzmarkt, lesen oder unterhalten sich. Nur die Musikanlagen bleiben ausgeschaltet. „Kein Strom“, Aida zuckt entschuldigend die Achseln. „Wir haben zwar nichts mehr zu essen, aber noch leben wir, in diesem Sommer 1993.“
Mit der Verhängung eines Wegezolls für die Fahrzeuge des UNHCR haben die bosnischen Serben ihre Strategie des Aushungerns der muslimischen Bevölkerung weiter verschärft. Nach Angaben des Genfer UNHCR-Sprechers Redmont verlangen serbische Posten für Lastwagen 350, für Kleinlastwagen und Busse 240, für PKWs 140 US—Dollar. Ein gestern morgen von Belgrad in Richtung Sarajevo gestarteter Hilfskonvoi mußte bereits umkehren, weil das UNHCR die verlangten Gelder nicht aufbringen kann. Die „Straßenräuberei“ (Redmont) der Serben verschärft die ohnehin dramatische Versorgungslage. Wegen mangelnder Lebensmittelvorräte mußte das UNHCR in den letzten Tagen die ursprünglich geplanten Lieferungen nach Zentralbosnien bereits um die Hälfte und die nach Sarajevo um 20 Prozent reduzieren. In den drei zentralen Lagern des UNHCR in Belgrad, Zagreb und Medcovice bei Split befanden sich gestern nur noch Vorräte für drei bis vier Tage. Das auf Spenden einzelner Regierungen angewiesene Welternähungsprogramm (WFP), das einen Großteil der Lebensmittel in die drei Zentrallager liefert, hat für den Monat Juli erst 25 Prozent der benötigten Nahrungsmittelspenden erhalten. Für August und die folgenden Herbst- und Wintermonate hat das WFP noch nicht einmal Spendenzusagen erhalten. Von den für 1993 für das Bosnien-Programm budgetierten 412 Millionen US-Dollar waren bis zum 30. Juni erst 130 Millionen in Genf eingegangen. Die EG hat bislang erst zwölf Prozent ihrer diesjährigen Finanzversprechungen an das UNHCR auch eingelöst. Zum 30. Juni 1992 waren es noch 76 Prozent. azu
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