: Leben und Überleben
Toni Morrison erzählt den Roman der Schwarzen in der Gründerzeit Harlems ■ Von Sibylle Cramer
Der erste Satz kommt direkt von der Zunge: „Pfh, die Frau, die kenne ich. Die hat immer mit einer Schar von Vögeln in der Lennox- Avenue gewohnt. Ihren Mann kenne ich auch. Der ist einer Achtzehnjährigen verfallen, mit einer so tiefen und schaurigen Stimme, die ihn dermaßen traurig und glücklich gemacht hat, daß er sie erschoß.“ Die Autorin überläßt die Schilderung des Dramas einer anonymen Stimme, die aus weiter Distanz berichtet. So kommt sie zu einer Fassung, die aus einem teilnahmsvollen Theaterlexikon stammen könnte.
Der Tragödie erster Teil endet mit dem Satz: „Ich liebe dich.“ Er stammt von dem Papagei Violets, die das Tier nach dem Mord zusammen mit seinen Käfiggenossen in einem Akt der Selbstbestrafung an die Luft setzt. Mit Violets Vögeln und mit Joes Geliebter verschwindet die Liebe aus dem Leben des Ehepaares Violet und Joe Spur. Die Autorin benötigt für ihre Beseitigung ein paar furiose Zeilen. Der Rest des Romans gilt dem, was danach kommt – Leben in seinen Überlebensformen, die Versöhnung mit dem Leben, der Tragödie letzter und schönster Teil.
Toni Morrison gehört als literarische Repräsentantin der Kultur der Schwarzen zu den meistgelesenen Schriftstellern der USA, denn das lesende Amerika steckt derzeit mit seiner Nase in Büchern, die aus der Dritten Welt kommen, von ethnischen Minderheiten, aus den Ghettos. Die 61jährige Toni Morrison hat lange Jahre als Verlagslektorin in New York gearbeitet, bevor sie unter die Schriftsteller und als Professorin für englische Literatur in Princeton unter deren Interpreten ging.
Auch dieser neue Roman, dessen Original vor einem Jahr in den USA erschien und jetzt von Helga Pfetsch auf beispielhafte Weise ins Deutsche übersetzt wurde – auch dieser neue Roman beschäftigt sich mit der Welt, aus der Toni Morrison kommt, mit den Schwarzen Amerikas, mit ihrer Geschichte. Sie beschreibt das Harlem der zwanziger Jahre, das Leben der Schwarzen nach dem Modernitätsschock, nach ihrer Einwanderung in die Stadt, nach der Verwandlung der schwarzen Landarbeiter und kleinstädtischen Handwerker in Großstadtmenschen. Sie beschreibt die Krisenzeit der Integration, den Beginn eines urbanen Lebens, dessen Anonymität mit dem Verlust der alten Sozialbindungen und Identität einhergeht. Übrig bleibt der Jazz.
Toni Morrisons Harlem ist eine Wiege schwarzer Stadtkultur. Das Wiegenlied, den Jazz, bringen die neugeborenen Städter von den Baumwollfeldern mit, die sie verlassen haben, und mit dem Jazz eine Kultur, deren soziale Bindungskraft die Geschichte von Violet und Joe Spur auf kunstvolle Weise nacherzählt. Die Nachbarschaftlichkeit, die Nähe, der enge soziale Zusammenhalt der Ghetto- Gesellschaft wird gleich im ersten Romansatz intoniert. Eine Klatschtante männlichen oder weiblichen Geschlechts berichtet, was geschah, die extremste Form ermordeter Gefühle. Die Stimme kommt nicht aus der Nähe des Dramas. Keine Freundin, keine Nachbarin spricht. Deutlich ist jedoch bei allem äußeren Abstand die innere Beteiligung der Sprechfigur. Die allgemeine Teilnahme und das Mitgefühl der anderen kommt ganz handgreiflich zum Ausdruck in der Meldung, kein Mensch im Viertel sei auf die Idee gekommen, die Tat anzuzeigen, auch die Tante der Ermordeten nicht, denn alle wüßten, wie sehr der Mörder und seine Frau litten. Ja, der Frauenclub Salem diskutiert ernsthaft die Frage, ob Violet in den Fonds der Hilfsbedürftigen aufgenommen werden soll, und entscheidet sich dann dagegen, weil ihr allenfalls ein Gebet, aber kein Geld nützen würde. So verhelfen sie Violet und Joe Spur zu ihrer Liebesgeschichte. Sie beginnt nach dem Mord und endet mit dem Bild des alt gewordenen Ehepaares, das Hand in Hand in den Schlaf hinüberdämmert.
Wenn die Erzählerin hier angekommen ist, hat sie eine narrative Reise hinter sich, die immer näher heranführte an ihre beiden Figuren. Am Ende sitzt sie im Kopf Violets und transportiert aufs Papier, was dort geschieht. Ihr Roman ist ein Liebesroman, aber die Liebesgeschichte, die sie erzählt, entsteht aus den Trümmern einer Liebe. Ihr Roman ist die Geschichte eines Verbrechens, das erzählend rekonstruiert wird. Aber die Wahrheit, die freigelegt wird, liegt außerhalb der Kategorien Schuld und Sühne. Ihr Roman ist der Roman zweier Figuren, deren Seele die Autorin bis in ihre Winkel ausleuchtet, Menschen, die sich finden, um ihr Glück in der Stadt zu machen – und wie dieser Klebstoff nicht ausreicht. Die eigentlichen Helden des Romans jedoch sind Harlem, die behütende, mitfühlende, helfende Gemeinschaft der Schwarzen und der Jazz, der dem Roman seinen Titel gibt, seinen Rhythmus, seinen Geist.
Toni Morrison: „Jazz“. Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch. Rowohlt Verlag 1993, 250 Seiten, geb., 39,80 DM
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