: Weltweite Spekulationen über Jelzins Gesundheit
■ „Demokratisches Rußland“ weist Berichte über Pläne zur Absetzung des Präsidenten zurück / Gerüchte über Jelzins Gesundheit sind russischer Alltag
Moskau (taz) – „Das demokratische Rußland pflegt nachts nicht zu tagen, sondern zu schlafen. Die einzige Ausnahme von dieser Regel haben wir bisher während des Putsches im August 1991 gemacht“. Mit diesen Worten reagierte Michail Schnejser, Sekretär der „Organisation Demokratisches Rußland“, auf die Gerüchte, sein Verband habe sich in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag auf eine Absetzung von Präsident Jelzin vorbereitet. Die Nachricht war „Prawda“ und „Rossijskaja Gazeta“ verbreitet und nicht zuletzt von der FAZ aufgegriffen worden. Als Anlaß zu derartigen Erwägungen bezeichnete die „Gazeta“ eine „angebliche krasse Verschlechterung der Gesundheit des Präsidenten“ und die „Möglichkeit seines Rücktrittes oder Ausscheidens aus dem Amte auf anderem Wege“. Die Organisation „Demokratisches Rußland“ – ein Dachverband von reformorientierten Parteien – wolle auf verfassungswidrige Weise verhindern, daß der mit Jelzin verfeindete Vizepräsident Rutskoi im Falle eines Falles dessen Nachfolger werde.
Schnejser zur taz: „Die Informationen sind Teil eines Planes, der auf die Destabilisierung der Lage im Lande abzielt“. Seine Organisation werde klagen, falls die Zeitungen die Artikel nicht dementierten. Der „Politische Rat“ seiner Organisation treffe sich immer donnerstags.
Schnejser nannte als Tagesordnungspunkt der letzten Sitzung die Diskussion über Parlamentsneuwahlen. Tatsächlich ist nicht im Zusammenhang mit der Gesundheit des Präsidenten, wohl aber im Hinblick auf diese Wahlen bei den Demokraten der Ruf nach einer jungen Mannschaft laut geworden, die Jelzin nicht nur ergänzen, sondern auch ersetzen kann.
Über Jelzins Gesundheit wird die Öffentlichkeit ebensowenig objektiv informiert wie über die seiner Vorgänger im Kreml. Es ist daher kein Wunder, daß permanent Gerüchte über dieses Thema grassieren. Viele Beobachter glauben, der Präsident habe in den letzten Wochen die Begegnung mit dem fernsehenden Volk nicht aus Gesundheitsgründen, sondern aus Verlegenheit vermieden. Vom Altgeld-Umtausch will er nichts gewußt haben, immer deutlicher wurde, daß sich hinter der Absetzung von Sicherheitsminister Barannikow ein Sumpf von Korruption in den höchsten Regierungskreisen auftut – und nun hat man am Sonntag auch noch Jelzins Bevollmächtigten in Nord-Ossetien erschossen. Mitte der Woche soll der Präsident nach Orjol fahren, um dort den 50. Jahrestag der Schlachten im zweiten Weltkrieg zu begehen. Die Aufmerksamkeit der Weltpresse ist ihm sicher. Barbara Kerneck
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