Die geplante Marktwirtschaft

Im Moskauer Gebiet basteln russische Bürokraten, neue Unternehmer und deutsche Privatisierungshelfer an einer neuen Handelsstruktur  ■ Aus Podolsk Donata Riedel

Nur mit Grausen erinnert sich ein deutscher Diplomat an seinen ersten Besuch im Kühlkombinat der Industriestadt Podolsk vor den Toren Moskaus: „Da lag das Fleisch einfach so in mehreren Haufen auf dem Fußboden, und der war ganz offensichtlich schon länger nicht mehr geputzt worden.“ Heute sind die tiefgefrorenen Rinderhälften in Regalen entlang der Wand gestapelt, das Kühlhaus außen und innen frisch gestrichen. Auf dem Betriebsgelände entgeht kein fallendes Herbstblatt dem Besen des Arbeiters im weißen Kittel.

Für das frühere Chaos und die heutige Ordnung ist derselbe Mann verantwortlich: Dimitri Annenkow, früher Generaldirektor des Kombinats, heute Geschäftsführer und Aktienbesitzer der Kühlhaus Podolsk AG.

Diese Tatsache macht den Großhandelsbetrieb zum Idealbeleg für das Klischee, daß erst das Privateigentum an Produktionsmitteln den Unternehmergeist weckt. Denn Annenkow hat seine Leute nicht nur zum Putzen angehalten. Für die Speiseeisproduktion im Gebäude neben der Kältekammer besorgte er neue Maschinen. Und das fertige Eis wird heute in frisch gebackene Waffelbecher gefüllt anstatt klumpenweise auf Pappe geklatscht.

Daß der Betrieb mit seinen rund 300 Beschäftigten zum marktwirtschaftlichen Musterbeispiel wurde, ist das Ergebnis ausgefeilter Planung in deutsch-russischer Kooperation. Ziel des Projekts ist die Musterprivatisierung des Handels im Moskauer Gebiet rund um die russische Hauptstadt. Beteiligt sind daran die russische Gesellschaft zur Förderung der Wirtschaftsreformen (GFW) und auf deutscher Seite die Treuhand Osteuropa Beratungsgesellschaft (TOB). Die TOB wiederum beauftragte für die Arbeit vor Ort als Subunternehmer die Behrendt, Tamm und Partner Beratungsgesellschaft (btp). Soweit der Dienstweg.

Im richtigen Leben entstand die Kooperation aus einer Begegnung zwischen dem heutigen Subunternehmer Hermann Behrendt mit dem GFW-Präsidenten Wladimir Serdjukow auf einer Ost-West-Tagung im Sommer 1991 in St. Petersburg. Behrendt war damals auf Jobsuche, denn er hatte zu dem Zeitpunkt im Treuhand-Auftrag gerade die Privatisierung des HO- Einzelhandels in den neuen Bundesländern abgeschlossen. Serdjukow wiederum suchte einen West- Partner mit Privatisierungserfahrung.

Am 1. Juni 1992 wurde das btp- Büro in Moskaus Tschechowstraße eröffnet. Seither arbeiten dort 30 btp-Mitarbeiter umschichtig für jeweils 20 Tage in fast klösterlicher Askese: morgens werden sie von ihrem Gemeinschaftsquartier ins Büro gefahren, spätabends alle gemeinsam wieder zurück. Nach der 20-Tage-Schicht fliegen sie für jeweils zwei Wochen auf Heimaturlaub.

Anders als in Ostdeutschland geht es den btp-Leuten in Rußland nicht um eine möglichst schnelle formale Privatisierung, sondern gleichzeitig darum, die Monopole zu zerschlagen. „Was nützt einem Einzelhändler sein Eigentumsrecht an einem Lebensmittelladen, wenn der Großhandel und der einzige Transportunternehmer ihm die Preise diktieren?“ formuliert Thomas Krupke die Kernfrage.

Nach einem Jahr nun ist der Transport-Monopolist „Mosoblavtotrans“ in 46 Unternehmen zerschlagen, die Lkws auf Auktionen versteigert. In den vier Städten Klien, Noginsk, Domodjedowo und Dubna helfen die btp-Leute den jeweiligen Transportunternehmen bei der Entwicklung eines Unternehmenskonzeptes.

Das Kühlkombinat in Podolsk ist zusammen mit dem im nahe gelegenen Schukowski das erste Kühlhaus Rußlands, das privatisiert wurde – worauf die btp-Leute besonders stolz sind. Denn wenn irgendwo ein Behördenleiter die Privatisierung bremsen will, tut er es bei den Kältekammern, aus denen die Bevölkerung im Winter fast komplett mit Fleisch- und Milchprodukten versorgt wird.

„In der Zeit vor dem Referendum lief bei der Privatisierung praktisch gar nichts mehr, weil niemand wußte, ob der Reformprozeß nicht vielleicht doch gestoppt würde“, erzählt btp-Großhandelsberater Heiner Berr. Nach Jelzins Erfolg sei dann das Geschäft plötzlich ganz einfach geworden, der Genehmigungsstau habe sich fast über Nacht gelöst. Im Sommer allerdings, während des Rätselns um Jelzins Gesundheit, und seit den erneuten Privatisierungsblockaden des Obersten Sowjet erlebt Berr erneut hinhaltenden Widerstand.

Das Moskauer Gebiet mit seinen rund neun Millionen Einwohnern wird im Winter ausschließlich aus den zehn Kühlkombinaten mit Fleisch- und Milchprodukten versorgt. Das Kühlhaus Podolsk hat, so Geschäftsführer Annenkow, daran einen Anteil von 15 Prozent. Zu Planwirtschaftszeiten gehörte zu jedem Kühlhaus eine bestimmte Region. „Heute halten wir uns nicht mehr daran, sondern handeln auch über die Region hinaus“, sagt Annenkow.

Abnehmer für die Rinderhälften, Fisch- und Milchprodukte zu finden ist für Annenkow kein Problem; in einer Mangelwirtschaft wie der russischen herrscht Nachfrage im Überfluß. Viel schwieriger allerdings ist der Einkauf: Die alten Lieferanten, überwiegend aus der Ukraine, sind nur mühsam zu halten, neue noch kaum in Sicht. Auch wenn Heiner Berr Annenkow sehr dafür bewundert, daß der immer mal wieder irgendwoher Fleisch- oder Joghurt-Lieferungen organisiert – die 24 Kühlkammern und die 2.000 Quadratmeter großen Lagerhallen sind weit davon entfernt, voll zu sein. Profitabel ist derzeit nur die Eisproduktion.

Im Kontrast zu Ostdeutschland bedeutet Privatisierung keinesfalls Massenentlassungen – im Gegenteil: Dimitri Annenkow will, wie die meisten der neuen privaten Handelsunternehmer in Rußland, sein Geschäft eher vergrößern als verkleinern. Die Kosten dabei sind vergleichsweise gering, denn Arbeitskräfte sind in Rußland billig. Nur sieben bis acht Prozent der Betriebskosten entfallen bei dem Podolsker Betrieb auf die Gehälter der Beschäftigten; die Energiekosten für die Kühlaggregate schlagen dagegen mit 30 Prozent zu Buche. Und für die Emissionen aus dem Kühlmittel Ammoniak muß das Unternehmen eine Umweltsteuer zahlen – weshalb Annenkow aus Kostengründen eine Investition in Staubfilter plant.

Um das Vorzeigeobjekt gänzlich zum Musterfall zu machen, suchen GFW und btp jetzt noch einen Investor aus dem Westen. 51 Prozent der Aktien wurden an die Belegschaft ausgegeben, 30 Prozent soll der West-Investor übernehmen. Außerdem verspricht der staatliche Vermögensfonds, der heute noch 49 Prozent hält, daß durch Investitionen im Zuge einer Kapitalerhöhung der Investor auch eine Mehrheitsbeteiligung erwerben kann.

Einen leichten Kratzer hat das Idealbild dennoch. Ausgerechnet der alte Betriebsdirektor ist der neue Unternehmer, vermutlich – auch die btp-Leute wissen das nicht, und Annenkow schweigt sich darüber aus – hat er seinen Leuten relativ schnell einen Großteil der Aktien abgeschwatzt. „Letztlich haben wir keine Wahl, als mit den Menschen, die den Betrieb am besten kennen, zusammenzuarbeiten“, sagt Berr. Er selbst entscheidet vor allem nach dem Kriterium, ob die alten Direktoren genügend Unternehmergeist mitbringen.

Den Führungsstil findet er bei fast allen seinen russischen Geschäftspartnern „reichlich antiquiert, um nicht Kommandowirtschaft zu sagen“. In Rußland gebe es an den Unternehmensspitzen leider nur Diktatoren und Patriarchen. Mit den Patriarchen, die sich für den Betrieb und die Beschäftigten verantwortlich fühlten, müsse man dann halt zusammenarbeiten.