Hurra, du blattlose Zeit! Von Christine Berger

Wann haben Sie Ihren letzten Waldspaziergang gemacht? Vielleicht am letzten Sonntag? Na, und was ist Ihnen aufgefallen? Richtig, Flora und Fauna haben sich schwer in Schale geworfen. Knallgelbe Blätter, dazu farblich abgestimmte Kastanien und Eicheln als Accessoires, gewagte Ausschnitte mit tiefen Einblicken auf die vollrinden Reize. Der Galaaufzug vor dem Abgesang, wie es sich im Herbst eben schickt. Natürlich lagen Ihnen dort im Wald viele der gelben und roten Blätter auch zu Füßen, ja und sachte schwebte der Nachschub Blatt für Blatt von den Ästen. Hei wie das raschelt und nach frischem Moder riecht!

Hat Sie Panik ergriffen? Wahrscheinlich nicht. Im Herbst darf sterben, was sterben muß. Der weltweite saisonal bedingte Verwesungsprozeß lockt keinen engagierten Baumpaten mehr hinter dem Ofen hervor. Ganz im Gegenteil. Erinnern Sie sich bloß mal an Ihre Spaziergänge zu Pfingsten oder Fronleichnam. Kaum waren Sie mit Kind und Kegel auf dem Autoparkplatz vorgefahren, nahm das Drama auch schon seinen Lauf. Der erste Blick in die Runde verhieß nichts Gutes. Was ließ die Weide denn so ihre Äste hängen? War sie etwa krank? Oder dort drüben der Ahorn, vielleicht hatte auch ihn schon das Grauen gepackt. Waldsterben, ick hör dir trapsen. Fortan wurde jeder Baum kritisch ob seines Gesundheitszustands beäugt, und zeigte sich auch nur ein blattloses Ästchen, daß Ihnen scheinbar anklagend seine Rippen entgegenstreckte, war der Ausflug ins Grüne endgültig im Eimer. „In manchen Gegenden gibt's schon zu achzig Prozent Waldsterben“, stellte dann die pubertierende Tochter sachlich fest und begann mit wichtiger Miene ihr Referat zum Thema „Schwefeldioxid und die Folgen für die Natur“ hinterherzuschieben. Verdrängung war zwecklos. „Die Spitze der Tanne wächst auch nicht normal“, gab kurz darauf etwa Ihre Freundin zum besten, obwohl es sich eindeutig um eine Fichte handelte und die gute Frau höchstens zweimal im Jahr ihren Hintern in den Wald bewegte.

Aber hatten sie nicht alle recht? Waren die Blätter der Eiche dort auf der Lichtung nicht merkwürdig grün, irgendwie unecht, verseucht von chemischer Keule aus aller Winde? Auf dem Weg zurück zum Auto schlichen Sie mit düsterem Blick, die Erkenntnis im Nacken, daß alles kaputt ist – bis auf Ihren fahrbaren Untersatz, der gerade noch einmal durch den TÜV kam. Wie ging doch da im Sommer ein Aufatmen durch den Wagen, wenn die ersten Häuserschluchten in Sicht kamen, und das Brummen der Rasenmäher die Luft über den vor Gesundheit strotzenden Vorgärten erfüllte.

Und nun also der Herbst. Kahle Äste brauchen Ihnen jetzt keine schlaflosen Nächte mehr zu bereiten. Je abgestorbener, desto besser. Es gehört sich ja schließlich so! Jetzt sind endlich die Bäume, die partout nicht von ihren Blättern lassen wollen, nicht ganz normal, und die gibt's hier kaum.

So werden dann bald, wie alle Jahre wieder, ganze Wälder in Friehofsruhe schnarchen, kahl und unansehlich, mal mehr mal weniger grau, und das ganz ohne Meckerei irgendwelcher dahergelaufener Spaziergänger. Fast ein halbes Jahr haben wir wieder Spaß am Wald, denn wie immer zur Winterszeit garantieren die kahlen Wipfel: In allen Gewissen ist Ruh.