: Griechenland, Wiege der Gerontokratie
Zwei 75jährige Politdinosaurier bestimmen den Wahlkampf für die griechischen Parlamentswahlen ■ Aus Athen Takis Gallis
Die alte Dame winkte ihm freundlich zu. Weniger freundlich waren ihre Worte, als Antonis Samaras sie begrüßen wollte. „Sie sind ein Renegat, Herr Samaras“, schnauzte sie ihn an. Wortlos wandte sich Griechenlands Ex- Außenminister ab. Der Start seines Wahlkampfes für die Parlamentswahlen am 10.Oktober war ihm gründlich verpatzt.
Der Zwischenfall, der sich Ende September in der nordgriechischen Stadt Jannina abspielte, sollte freilich keine Ausnahme bleiben. Schon am nächsten Tag, als Samaras in Messologi auftrat, flogen ihm Steine und Tomaten entgegen. Eine Schraube traf ihn am Hinterkopf und setzte ihn kurzfristig außer Gefecht. Seitdem, bestätigen seine Ärzte, leidet er unter ständigen Kopfschmerzen.
Seit jenen Tagen gleicht die Wahltournee des 42jährigen Jungpolitikers und Führers der neugegründeten Partei Politiki Anixi (Politischer Frühling) einem Spießrutenlauf. Oft warten auf ihn mehr Gegner als Anhänger. Manchmal wird er auch einfach mit dem Tode bedroht. In Volos, 200 Kilometer nördlich von Athen, skandierten Demonstranten die Parole: „Samaras, bereite dich aufs Sterben vor.“ Die anwesenden Polizisten stellten sich taub.
Was macht Samaras zu einem solchen Ärgernis? Die Frage ist leicht zu beantworten: Mitte September brachte er die Regierung zu Fall, mit Hilfe zweier ebenfalls abtrünniger Abgeordneter der regierenden konservativen Nea Demokratia. Seitdem wird Samaras von Ministerpräsident Konstantinos Mitsotakis als Verräter im Solde von „dunklen Hintermännern“ tituliert. Der so Beschuldigte kontert mit dem Vorwurf, es sei der Planungsstab von Mitsotakis, der die Angriffe gegen ihn und seine Partei plane. Er versprach, den Satz „Mitsotakis ist eine Dreckschleuder“ solange jeden Tag öffentlich zu wiederholen, bis der Ministerpräsident die Namen dieser Hintermänner bekanntgibt. „Das Aussehen einer Latrine“, sagte er vor kurzem, „ist zum ersten Mal mit dem Gesicht eines Mannes, Mitsotakis, gleich.“
Zum ersten Krach zwischen den zwei Männern kam es schon vor anderthalb Jahren. Damals, als Samaras noch Außenminister unter Mitsotakis war, wurde die ex-jugoslawische Republik Mazedonien zum unabhängigen Staat und löste in Griechenland eine Kontroverse um Namen aus. Samaras lehnte jede Staatsbezeichnung ab, die den Namen Mazedonien ganz oder zum Teil (wie etwa „Neu-Mazedonien“) trägt, Mitsotakis zeigte sich eher konziliant. Samaras behauptet, sein früherer Regierungschef habe einmal gesagt: „Ich wäre sehr glücklich, wenn es schließlich zu einer Bezeichnung wie ,Mazedonien-Skopje‘ käme.“ Im Frühjahr 1992 wurde Samaras von seinem Posten entlassen. Jener, der ihn entließ, mußte bald aufgrund von machtvollen Demonstrationen der griechischen Nationalisten in Saloniki und Athen auf die harte Linie Samaras' einschwenken. Seitdem wird Mitsotakis Doppelzüngigkeit vorgeworfen.
Was den hochgewachsenen Harvard-Absolventen Samaras dazu noch zu einem besonderen Fall macht: Er hat frischen Wind in die griechische Innenpolitik gebracht. Seine Hauptparole von der „Überwindung“ zielt auf die Bildung eines überparteilichen Lagers, welches die Herrschaft der „Gerontokratie“ brechen soll. Ärgster Gerontokrat ist dabei, neben Mitsotakis, der Ex-Regierungschef und Führer der sozialistischen Pasok-Partei, Andreas Papandreou – beide sind schon 75 Jahre alt. Der große Durchbruch wird freilich Samaras diesmal nicht gelingen. Geben ihm doch die letzten Meinungsumfragen bei den Wahlen vom kommenden Sonntag maximal sechs Prozent der Stimmen.
An der Hauptfront des Wahlkampfes, die zwischen den Konservativen und den Sozialisten verläuft, geht es weniger rabiat zu. Hier wird eher mit Fernsehspots als mit Steinen geworfen. Es ist die denkbar stärkste „Negativwerbung“; die Programme der 20 großen Fernsehstationen und der etwa 1.500 Radiosender des Landes werden alltäglich mit den gehässigsten Botschaften überflutet. So zeigt ein Spot der Nea Demokratia das Bild eines todkranken Papandreou, dem die Arbeit eines Regierungschefs nicht im Traum zuzutrauen wäre. Im Gegenzug erscheint Mitsotakis in den Werbeshows der Sozialisten als Dracula, der mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik das Blut der armen Bürger aussaugt.
In den Nachrichtensendungen sind allerdings ganz andere Bilder von ihm zu sehen: Mitsotakis als Superman. Meistens in Hemdsärmeln, läuft, klettert und springt er so locker herum, daß seine Leibwächter oft Schwierigkeiten haben, mitzuhalten. Seine US-amerikanischen Werbeberater haben ihn, den 75jährigen, auf total „agil“ getrimmt. Innerhalb von drei Wochen hat er mehr als 70 große und kleinere Wahlveranstaltungen im ganzen Land bestritten. Seine Lieblingsfrage an das Publikum: Warum hat sein Gegenspieler, im Gegensatz zu ihm, Angst vor dem Volk? Wohl weiß Mitsotakis aber, daß Papandreou herzkrank ist und daher bislang bloß viermal bei zentralen Wahlveranstaltungen auftreten konnte.
Beherrscht wurde der Wahlkampf von Wirtschaftsfragen, vor allem von der chronischen Wirtschaftskrise, die Massenarbeitslosigkeit und einen staatlichen Schuldenberg in der Rekordhöhe von umgerechnet 135 Milliarden DM beschert hat – dreimal so viel wie bei Mitsotakis' Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren. Namhafte Ökonomen wie Angelos Angelopoulos sprechen vom bevorstehenden Staatsbankrott. Diese Schreckensvision findet allerdings nicht in die Wahlkampfreden. Im Gegenteil: Mitsotakis verspricht ausgerechnet jetzt Einkommenszuwächse. Papandreou gibt sich bescheidener und garantiert erstmal nur das Nichtweitersinken der Einkommen.
Fest steht jedenfalls, daß ein großer Teil der vormaligen Wähler der Nea Demokratia von deren Wirtschaftspolitik geschädigt worden ist. In dreieinhalb Jahren wurden die Steuergesetze sechzehn Mal geändert, ohne Konsultation mit den Betroffenen, was die Unternehmer vergrätzt hat. Allein im letzten Jahr sollen 150.000 Klein- und Mittelbetriebe dichtgemacht haben, die Industrieproduktion ging beständig zurück und der private Konsum ist, trotz beliebig ausgedehnter Ausverkaufszeiten, „tot“ – Kunden, schreibt die angesehene Wirtschaftszeitschrift Oikonomikos Tachidromos, gelten als die seltenste Spezies auf Erden.
Der Sozialist Papandreou will diesem „Katastrophenklima“ entgegenwirken, indem er den Unternehmern eine berechenbare Politik verspricht. Gesetzesänderungen sollen in Zukunft nur nach intensiven Gesprächen mit den Betroffenen erfolgen, Steuererhöhungen in der kommenden Legislaturperiode sogar ganz ausbleiben. Die horrenden Staatsdefizite sollen ausschließlich durch Anleihen beziehungsweise durch die aus dem erhofften Wirtschaftswachstum erwarteten Mehreinnahmen gedeckt werden – eine andere Perspektive als die von Mitsotakis, der im großen und ganzen auf die alte Austeritätspolitik setzt. Um die neuen Hoffnungen Papandreous zu realisieren, müßte die Wirtschaft aber wachsen, was erfordert, daß die griechischen und ausländischen Unternehmer durch Investitionen mitspielen – was nicht sehr wahrscheinlich ist – und daß der Geldstrom aus der EG anhält – was immer unwahrscheinlicher wird.
Wie auch immer – der als voraussichtlicher Wahlsieger gehandelte Papandreou verspricht Nachbesserungen gegenüber seiner ersten Amtszeit von 1981 bis 1990: weniger Bürokratie, mehr Demokratie in Politik und Wirtschaft bei gleichzeitiger Förderung der Privatinitiative. Versprechen, die im Inland auf positive Reaktionen stoßen: Die Athener Börse verzeichnet seit drei Wochen, trotz der Wirtschaftsflaute und entgegen den Warnungen der Nea Demokratia, eine unverhoffte Blüte. Nur im Ausland ist das Echo geteilt. Viele europäische Partner haben die Eigenwilligkeit der griechischen Sozialisten in den EG- und Nato-Gremien in schlimmster Erinnerung.
Überdies stellt die Haltung der sozialistischen Pasok, die in der Mazedonien-Frage eine ähnlich extreme Position wie Samaras vertritt, ein Hemmnis für die Balkan- Politik der Europäischen Gemeinschaft dar, will doch die EG, im Namen der schnellen Stabilisierung der Gegend, einen möglichst raschen Kompromiß in der Namensfrage. Und nicht zuletzt wird die Pasok als die relativ größte und radikalste sozialistische Partei Europas nicht als der angenehmste Gast im Club der reichen Europäer gesehen.
All das hätte früher bei weitem genügt, um eine hitzige Wahlschlacht auszulösen. Diesmal begnügte man sich aber, sieht man von den Ausschreitungen gegen Samaras ab, mit einem „stummen Wahlkampf“. Keine großen Schreiduelle auf Straßen und an Arbeitsplätzen, keine Teilung der Kaffeehäuser in blaue (konservative) und grüne (sozialistische) wie einst. Es herrscht ein „mildes Klima“, welches, so der Kommentator der linksliberalen Zeitung Elefterothypia, sich in der Regel zugunsten der Oppositionsparteien auswirkt.
Was von den Meinungsumfragen voll bestätigt wird: Danach können die Sozialisten mit 38,3 Prozent der Stimmen rechnen, die Konservativen hingegen nur mit 29,8 Prozent. Rechnet man auf diese Prozentsätze den analogen Teil der rund 14 Prozent noch Unentschlossenen hinzu, dürfte die Pasok schließlich auf über 45 Prozentpunkte, die Nea Demokratia aber auf weniger als 35 kommen, was ein historisches Rekordtief für diese Partei bedeuten würde.
So wird der kommende Sonntag aller Wahrscheinlichkeit nach ein Tag der Wahlwunder sein. Papandreou, vor dreieinhalb Jahren nach drei aufeinanderfolgenden Wahlschlappen auf dem Boden gelegen, dürfte diesmal die Auferstehung schaffen. Ob er dabei auch die gewünschten 180 von den insgesamt 300 Parlamentssitzen bekommt, mit denen er wichtige Verfassungsänderungen durchsetzen will, ist noch nicht auszumachen. Erreicht er sie nicht, wird er, wie er vor kurzem in einem Fernsehinterview ankündigte, eine punktuelle Zusammenarbeit mit den linken Parteien anstreben.
Seine Auswahlmöglichkeit unter denen wird freilich ziemlich beschränkt sein: Nur die neostalinistische KP dürfte leicht die Drei-Prozent-Hürde überspringen. Der „natürliche“ Bündnisparter Synaspismos – eine linkssozialistische Partei, mit der auch ein Teil der Ökologen zusammenarbeitet – kämpft ums Überleben. Welches aber, urteilt man nach den Meinungsumfragen, erst am kommenden Sonntag an den Urnen endgültig besiegelt sein wird.
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