: Wer die Alpen in die Wohnstube holt
In Leipzig, der zweiten Station der Deutschen Meisterschaft, gingen die Sportkletterer die 16 Meter hohe Kunst-Wand hoch / Gunda Frühwald, 43, ist eine der Besten und die Älteste der Szene ■ Cornelia Heim
Berlin (taz) – Wer meint, Klettern findet in den Alpen statt, ist nicht auf dem laufenden. Sportkletterer bewegen sich wie am Wochenende in Leipzig auf Polyesterwänden fort. Naturfels-Imitate, die ohne ein Gerüst aus 500 Stahlrohren ihr Rückgrat verlören. Von alpinen Gefahren in der Halle keine Spur. Ein Haken ist so fest gemauert in der Wand, daß er die Last von drei Limousinen tragen könnte.
Was sind das für Leute, die künstliche Wände hochgehen? Die schwere Bergstiefel mit leichten Turnschuhen und lederne Wanderhosen mit knallig-bunten Tights eingetauscht haben? Ein Blick auf deren Hände spricht Bände: Sportkletterer haben im kleinen Finger mehr Kraft als andere im Oberschenkel. Weshalb die Finger dann nicht so dick sind wie Sellerieknollen? Ganz einfach: Die Muckis für die Hände sitzen im Unterarm.
Daß sie die Evolutionsgeschichte ignorieren und es den (Kletter-)Affen gleichtun wollen, bleibt auch im Alltag nicht verborgen. „Mein Gott, Sie haben aber hart arbeiten müssen!“ Gunda Frühwald mag als Krankenschwester viel zu tun haben, aber die mitleidsvolle Patientin sei getröstet, die Schwielen an den Fingern hat sie sich ganz freiwillig in ihrer Freizeit geholt.
Gunda Frühwald ist deutsche Meisterin im Sportklettern 1992 und liegt im diesjährigen Championat nach zwei von vier Wettbewerben wieder vorne mit dabei. Die Krankenschwester mit den abgeschafften Händen ist mit 43 Jahren ein Oldie in der noch jungen Trendsportart: Regeln wurden erst 1988 fixiert, als das 43-Kilo-Fliegengewicht schon längst die Gesetze der Schwerkraft auf den Felsen vor der Haustür zu durchbrechen suchte. Mit 20 Lenzen schon zog es die Frau aus Forchheim in die Berge. Wandern in der nahen Fränkischen Schweiz, so fing alles an. Ganz klassisch. Zehn Jahre später war der reine Gipfelsturm nicht mehr Motor genug. Gunda Frühwald verlor Boden unter den Füßen, gewann Muskeln im Oberkörperbereich.
Was zunächst ein Spiel war, wurde im Lauf der Jahre zum harten Sport. Drei Stunden täglich trainiert die Krankenschwester und Mutter. Trainer ist Lebensgefährte Holger. „Der hat Sport studiert. Das hilft.“ Auf den richtigen Muskelaufbau kommt es nämlich an. Kraftpakete allein sind eher hinderlich. Kopf vorneüber, einem Vogel gleich, der die Flügel ausbreitet, hängt Gunda Frühwald am Überhang, dem sogenannten Dach. Von der Fußspitze bis zur Fingerkuppe, die ganze Spannweite ihres 1,50 m kleinen Körpers wird auf die Probe gestellt. Zwischen Zeigefinger und Daumen liegt das Schicksal – Absturz oder Aufstieg? Statische Haltekraft, mehr als Schnellkraft, gibt den Ausschlag. Muskulär sind Unterarme gemeinhin Entwicklungszonen. Das Training ist schwierig.
Wer laufend Wände hochgeht, muß Allroundsportler sein. Muß laufen – mindestens eine Stunde pro Tag – und am besten nebenbei einen Tennisball mit den Fingern durchkneten, damit die Blutversorgung in den Kapillaren optimiert wird. Muß radfahren und darf das Training mit der Hantel nicht als stupide Kraftmeierei abtun.
Ein guter Kletterer hat im Keller eine Kletterwand stehen. Wenn Dieter Unsportlichs Hände auf dem Sofa nur noch Halt an der Bierflasche finden, üben Wettkampfkletterer immer noch Halte- Griffe in der Wand. Bei Gunda Frühwald ziert kein Picasso im Wohnzimmer die Tapeten. Statt dessen „Trainingsleisten“ an Türrahmen in der Küche und ein „Hangelbrett“, an dem die Muckis blockieren lernen. Klimmzüge, der Graus all ihrer kraftlosen Geschlechtsgenossinnen, kann Gunda Frühwald so viele, daß sie sie gar nicht mehr zählt. Kein Wunder, hängt sie sich doch zwischen Bettenmachen und Kloputzen an die Reckstange. Auch einarmig, versteht sich. Auch nur mit dem kleinen Finger.
Wer die Alpen in die Wohnstube holt, hat zwar dem romantischen Bergvagabunden-Leben Lebewohl gesagt, kommt ohne Idealismus doch nicht weit. Gunda Frühwald ist im A-Kader des Deutschen Alpenvereins (DAV). Aber außer Spesen für Weltcups ist nichts gewesen. Ihren Urlaub verbringt sie in den Sporthallen rund um den Globus. Keine Sportförderung, auch keine Freistellung von der Arbeit. Der Grund: Der Deutsche Alpenverein ist (noch) nicht Mitglied im Deutschen Sportbund (DSB). Über eine Aufnahme wird verhandelt.
Etwa 500 anderen deutschen Wettkampfkletterern geht es ähnlich. Nur wenige, wie etwa Werner Herzogs Filmheros Stefan Glowacz, Zweiter der deutschen Rangliste, haben ihren Sport zum Beruf gemacht. Die Trendsportart ist nur im kleinen Kreise populär. Es fehlt das Publikum, es fehlen Sponsoren. Und Prämien? 1.000 Mark gab's für den Sieger in Sindelfingen, der ersten von vier Stationen im Deutschen Cup. Dafür würde sich ein Tennisprofi nicht einmal einschlagen.
Was beseelt denn die Klettergemeinde, wenn nicht mehr die Landschaft, wenn nicht mal der Mammon? Christoph Bucher, 24, Fünfter der deutschen Rangliste: „Der Reiz, immer schwierigere Routen zu bewältigen.“ 10- ist derzeit das Maß aller Kletterer. Routinier Gunda Frühwald antwortet pragmatisch: „Klettern in der Halle ist absolut sicher.“ Ohne Alpen auch keine alpinen Gefahren. Kein plötzliches Gewitter, kein Steinschlag.
Dafür herrscht der Gott der Elektronik. Elektronische Theodoliten haben die künstliche Kletterfläche im Griff. Gemessen und an die auf dem Boden stationierte Schar der Computer weitergegeben wird die zurückgelegte Kletterstrecke, nicht die Höhe über dem Boden.
Die Naturliebe hat die Kletterer ins unnatürliche Hallen-Erlebnis getrieben. Alexander Hartinger, stellvertretender Geschäftsführer des DAV: „Die Mittelgebirge werden aus ökologischen Gründen gesperrt.“ Wozu den Wald abholzen, um den Fans einen freien und außerdem kostenlosen Blick auf den Fels zu gewähren, wenn die moderne Technik Kunstberge in der Halle beschert?
Gunda Frühwald klettert draußen wie drinnen. Wie lange noch, ist allerdings die Frage. Aufhören wollte sie schon in diesem Jahr. Aber noch will sie das Kribbeln in der Magengrube vor dem Wettkampf nicht missen: „Ich fühle mich noch nicht als Sport-Oma.“ Obwohl sie die Älteste in einer Szene ist, die es bunt liebt. Aber wohl nicht so toll treibt. Christoph Bucher: „Show wie bei Snowboardern oder Surfern ist bei uns tabu.“ Wer effektheischend klettert, dem geht unterwegs Luft und Kraft aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen