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Drängelei im Dom: Alle wollten singen

■ Im Berliner Dom wurde das neue evangelische Gesangbuch vorgestellt

„Ham'se vielleicht noch 'ne Karte übrig?“ fragte eine ältere Dame in rotem Mantel gestern nachmittag auf den Stufen des Doms jeden Neuankömmling. Doch die Antworten waren ein Kopfschütteln oder abweisendes Nein. Wann gab es das jemals, daß man sich so um Karten für einen Kirchenbesuch riß? Und das alles wegen eines Gesangbuchs!

Alle Jubeljahre, besser gesagt: alle fünfzig Jahre wird das evangelische Kirchengesangbuch erneuert. Das heißt, Lieder die wenig bis gar nicht gesungen wurden, werden durch andere ausgetauscht. Damit sich auch ja keine der vielen evangelischen Gemeinden in der Bundesrepublik, Österreich und Elsaß-Lothringen vor den Kopf gestoßen fühlt, dauerte das demokratische Verfahren unter Federführung von zwei Gesangbuchausschüssen insgesamt vierzehn Jahre. Das Ergebnis, die unter Beteiligung der Landeskirchen ausgewählten Lieder und Texte, liegt nun in Form eines 1.360 Seiten umfassenden auf Dünndruckpapier erstellten Buches vor, das fortan nicht mehr Kirchengesangbuch, sondern nur noch Gesangbuch heißt. 127 Lieder sind erst nach 1950 veröffentlicht worden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Übertragungen von Liedern aus England und den Niederlanden, aber auch Frankreich, Israel und Polen. Gospels der Schwarzen aus den USA sind zwar nicht darunter, dafür aber ein Volkslied aus Jamaika.

Die dominierende Haarfarbe des Publikums, das sich gestern im restaurierten Dom drängte, war Grau. In der ersten Reihe mit dabei der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe und Berlins Bürgermeister Diepgen. Aber es gab auch farbliche Lichtblicke. Zum Beispiel ein von den Socken bis zur Jacke vollkommen in Grün gekleideter Mann um die Mitte 40, der im Foyer passend dazu ein grün eingeschlagenes Gesangbuch für 38 Mark erstanden hatte. Flüsternd verriet er, daß er in diesem Jahr zum zweiten Mal in einer Kirche sei. Das erste Mal war in Philadelphia. „Dort habe ich auf dem Platz von Lincoln und Franklin gesessen.“ Während die meisten Kirchgänger gestern eifrig mitsangen, lauschte der „Grüne“ stumm. Aber zu den Menschen, von denen der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Martin Kruse, in seiner Ansprache redete, gehörte er ganz offensichtlich nicht: „von den Stummen, die nicht singen können und die nichts zu lachen haben“. Aber es gab ein lachendes Gesicht: die rotbemäntelte Dame. Die Kirchendiener hatten Erbarmen gezeigt und die Pforten zu guter Letzt auch noch für die Kartenlosen geöffnet. plu

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