: Grausig schönes Albmärchen
■ Daniel Auteuil als „Woyzeck“ beim Pariser Festival d'Autonome
In Claude Sautets „Ein Herz im Winter“ spielt Daniel Auteuil den unterkühlten Stéphane. Wenn die Geigenvirtuosin Camille ihn beschimpft und Geschäftspartner Maxime ihn ohrfeigt, sieht man auf der Leinwand nur Auteuils scheinbar regungsloses Gesicht, auf dem alles noch zu sehen ist: Wie sich gerade die sorgsam geschnürten Fäden einer lebenslänglichen Zwangsjacke lösen. Stéphane wird nicht mehr der sein, der er war.
Auteuil ist mit Michel Piccoli der zur Zeit wichtigste und vielseitigste französische Schauspieler. Im Theater „Rond-Point/Renaud- Barrault“ kann man ihn jetzt im Rahmen des Pariser Herbstfestivals sehen, und zwar als Woyzeck unter der Regie von Jean-Pierre Vinçent, dem Nachfolger von Patrice Chéreau am Theater „Nanterre-Amandiers“. Vinçent ist kein Spektakel-Regisseur, er arbeitet ganz auf die Schauspieler hin. Das Stück über den „Pauvre Franz“ beschäftigt ihn schon seit 20 Jahren; damals spielte er selbst den Hauptmann in Büchners „Woyzeck“.
Normalerweise ist der arme Franz ein geknechteter Soldat, ein Gehetzter zwischen dem Hauptmann, dem Doktor und Marie. Bei Vinçent taucht Woyzeck zwar auch am Anfang kurz auf und liefert Geld ab, trotzdem hat er immer wieder Zeit für einen ruhigen Blick in Richtung Marie. Er ist ein Liebender und verstörter kleiner Junge, der sich seine Liebe viel zu groß geschneidert hat. Und dann sind da diese Anwandlungen, wenn er meint, unter der dünnen Lasur des Planeten sei alles hohl. Auteuil (darin ist er ein Meister) spielt auch das nicht ausfahrend, sondern mit kleinen Gesten, Blicken, und manchmal ist sein Woyzeck sogar der Ironie mächtig. Aus der Rasierszene mit dem Hauptmann etwa wird eine pardodistische Nummer; wenn die Hand mit dem Rasiermesser in der Nähe des Adamsapfels dann doch kurz zittert, wirkt es um so gefährlicher. – Dieser Woyzeck der kleinen Gesten läßt vor allem in der ersten Hälfte der Inszenierung Raum für eine andere Figur. Marie, gespielt von Dominique Blanc, ist eine vitale junge Frau, der das eheähnliche Leben mit Woyzeck zu langweilig ausfällt. Keck, meint Büchner, solle Marie sein; Dominique Blanc ist das und mehr: kraftvoll, angriffslustig, die Hände auf die verlängerte Hüfte gestemmt. Wenn der Tambourmajor kommt, geraten nicht nur die Gefühle in Bewegung, sondern auch die Hände in lustvolle Knetbewegungen. Aus den Augen springen ihr kleine Messer, das berühmte Großmuttermärchen trägt sie nicht elegisch, sondern anklagend vor. Es paßt ihr nicht, daß das Leben solch ein Albmärchen ist, wie es Jean-Pierre Vinçent tatsächlich auf der Pariser Bühne demonstriert.
Er hat Büchners kosmologisch- lyrische Sprachbilder in einen Bühnenraum umgesetzt, in dem rundum wie von Zauberhand Dreiecke, Schlitze, Fenster aufgehen. Überall bricht das Weltall in das schön grausame Märchen ein; das eigentlich Verblüffende allerdings ist, daß Marie und Woyzeck in den entscheidenden Passagen überaus modern agieren. Wenn Marie die Mutterlast zuviel wird, drückt sie das Kind schon mal dem Franz in die Arme, der genau wie sie nichts mit dem „Bündel“ anzufangen weiß. Ihren privaten Streit tragen die beiden auf dem Marktplatz aus. Marie behauptet trotz Skrupel ihre Integrität, während Woyzeck sich hilfesuchend an die Menge wendet – eine geschickte Wendung der Inszenierung, denn je öffentlicher und scheinbar demokratischer der private Streit ausgetragen wird, desto schutzloser wirken die Streitenden.
Nach der Vorstellung, draußen vor dem „Rond-Point“, geht es ein Stück Champs-Elysées entlang und dann runter zur Metro Nr. 1 – dorthin, wo man vor der Vorstellung auf die Frage nach der richtigen Haltestelle ein beglücktes Lachen und die Gegenfrage kassiert, ob man etwa eine Karte für Daniel Auteuil habe? Daß es dabei um Büchners Woyzeck geht, schien eher nebensächlich. Im Moment ist eben Auteuil der Star. Jürgen Berger
Georg Büchner: Woyzeck. Regie: Jean-Pierre Vinçent; Bühne: Lucio Fanti; mit Daniel Auteuil, Dominique Blanc, Jean-Paul Muel, Grégoire Oestermann; Theater Rond-Point/Renaud-Barrault
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