: Es war ein gutes Kulturjahr!
■ n Ein vorauseilender Rückblick auf die erregendsten Ereignisse im Kulturleben des gesamten Jahres 1994
12.1.94 Nach langem schweren Suchen wird der neue bremische Generalmusikdirektor feierlich der Öffentlichkeit übergeben: Es handelt sich um den Dirigenten Ernst Mosch, der bisher mit größtem Erfolg das Orchester „Ernst Mosch und seine Original Egerländer“ geleitet hat. Im Vorfeld der Wahl hatten unaustilgbare Gerüchte für einigen Aufruhr gesorgt, wonach in Wirklichkeit der Regensburger Altpunker Ernst Bosch von der Krachkapelle „Ernst Bosch und seine Original Negerländer“ für dieses Amt ausersehen sei. „Mit unserer schnellen Entscheidung für Ernst Mosch haben wir diesen böswilligen Verleumdungen jede Grundlage entzogen“, sagt die Kultursenatorin bei der Feierlichkeit.
s
31.1.94 Die möglicherweise letzte Sitzung des Bremer Kulturrates, eines Zusammenschlusses sämtlicher Kulturschaffenden Bremens mit dem Ziel der Einflußnahme auf die Kulturpolitik der Stadt, findet in Anwesenheit nur eines Mitgliedes statt. Norbert Kentrup (Bremer Shakespeare Company) beschließt daraufhin einstimmig die Auflösung des Kulturrats. Noch am selben Tag wird der Beschluß auf Antrag einer Vertreterin des Bremer Künstlerverbandes BBK per einstweiliger Anordnung aufgehoben. Kentrup wird vom Vorstand des Kulturrates wegen seines „eigenmächtigen und sektiererischen Vorgehens“ gerügt.
s
28.3.94 Die Philharmonische GmbH & Co. KG, vorm. Philharmonisches Staatsorchester, gibt bekannt, daß sie erstmals kostendeckend arbeite. Vor allem die Betriebsfeiern beim Reifentreff Emigholz und die „Hot Klassik Samba“- Nächte im Brauereigasthof Schüttinger hätten sich „voll ausgezahlt“. Selbst über Auftritte bei Kindergeburtstagen könne noch „so manches neue Notenpult“ erwirtschaftet werden. „Der Mosch ist echt ein Spitzenmann“, sagt der Primgeiger Bommerlander, „der Mosch läßt keine Mark aus.“
s
17.4.94 Nach der Entscheidung des Bauressorts, die städtebauliche Lösung der Fläche zwischen Bahnhof und Kongreßzentrum durch Verwendung von gebrauchten Betonplatten aus einem ehemaligen U- Boot-Bunker noch einmal drastisch zu verbilligen, hat sich der prozentuale Anteil für Kunst am Bau ebenfalls erheblich reduziert. Der international renommierte Künstler Rolf Julius, der einen „Klangpfad“ aus tönenden Laternenpfählen erstellen will, hat in einem Brief an die Kultursenatorin seine Bereitschaft erklärt, „aus Liebe zu Bremen“ ebenfalls kostengünstiger zu arbeiten. Zu diesem Zweck will er auf die Wiedergabe des Plätschern eines japanischen Gebirgsbaches verzichten und mit dem Schwappen der Wümme an der Borgfelder Wümmebrücke vorliebnehmen.
s
8.5.94 In der Nacht zum 8. Mai kommt es zu Ausschreitungen auf der Teerhof-Insel. Angetrunkene Neustädter brüllen „Her mit dem Kulturdrittel“, da die Kulturbehörde ihr Versprechen, kulturell wertvolle Einrichtungen auf der Insel zu schaffen, noch immer nicht eingelöst hat. Noch in der selben Nacht erscheint Hans-Joachim Manske, Leiter des Referats für „Kunst im Öffentlichen Raum“, mit rudernden Armen auf der Walstatt, erklärt die Randalierer zu lebenden Skulpturen, schüttet sackweise Saatkartoffeln übers Ödland und hält eine Rede, wonach nun das Objekt „Acker mit Landleuten“ als neuestes Werk der „Kunst im öffentlichen Raum“ feierlich eröffnet sei. Am nächsten Tag sagt die Kultursenatorin der Presse, dies sei ein „ermutigendes Beispiel dafür, daß man auch mit bescheidenen Mitteln die Sache der Kunst fördern und generell innovativ im Sinne des erweiterten Kulturbegriffs sein“ könne. Der taz geht am selben Tag ein Leserbrief des Landwirts Oldewurtel aus Friesoythe zu, wonach es nötig sei, die Kartoffeln in die Erde zu stecken. „Sonst hat's ja kein Zweck“.
s
14.5.94 Die Entscheidung ist gefallen: Die Kulturdeputation stimmt einer Vorlage der Kulturbehörde zu, das traditionsreiche Concordia-Theater an einen privaten Investor zu verkaufen. Wegen der miserablen Bausubstanz sei ein Totalabriß unumgänglich, betont die Pressesprecherin des Ressorts. Mit dem Investor, der dem Vernehmen nach aus der Baubranche kommen und der mit EU-Mitteln ein Appartmenthochhaus „Multikulturelles Wohnen“ errichten soll, wurde ein sogenanntes „Kultur-Drittel“ vereinbart. Worum es sich dabei handelt, ist aus der Behörde noch nicht zu erfahren.
s
1.7.94 Der „Weser-Report“ wühlt die Öffentlichkeit auf mit der Schlagzeile „Kinocenter kommt zu 78,2 Prozent nach Bremen“. Im Vorjahr hatte er noch von „80 Prozent“ geschrieben. „Seit wir unsere neuen Computer haben, können wir viel genauer arbeiten“, erklärt freudestrahlend der Chefredakteur Ronald K. Famulla.
s
14.7.94 Nachdem der Theaterkritiker des „Weser-Kurier“, Rainer Mammen, wegen seiner ununterbrochenen Verrißserie bei der Shakespeare-Company Hausverbot erhalten hat (zuletzt die vernichtende Kritik am „zurecht“ (Mammen) vergessenen Königsdrama „Heinrich X.“, wechselt er als Pressesprecher ans Hamburger Thalia-Theater. Sein Amtsvorgänger löst daraufhin den Feuilletonchef des „Weserkurier“, Arnulf Marzluf, ab, der als freier Leitartikelschreiber für 17 norddeutsche Feuilletons tätig sein wird.
s
17.8.94 Der pensionierte Kunsthallenchef Siegfried Salzmann wird an der russisch-ukrainischen Grenze bei dem Versuch festgenommen, drei daumennagelgroße Briefmarkenentwürfe von Leonardo da Vinci illegal auszuführen. Nach eigenen Angaben wurden ihm die mit einem Stempel der Bremer Kunsthalle versehenen absoluten Raritäten von einem russischen Weltkrieg-I-Veteranen mit den Worten zugesteckt: „Auf diesen Augenblick habe ich 48 Jahre lang gewartet.“ Es kommt zu einer internationalen Krise, in deren Verlauf durch Indiskretionen bekannt wird, daß sich das im Krieg aus einem Leningrader Zarenpalast entwendete langgesuchte „Bernsteinzimmer“ im feuchten und vollgestopften Keller der Bremer Kunsthalle befindet. Der Bremer Chefunterhändler in Sachen Beutekunst, Prof. Wolfgang Eichwede, tritt daraufhin vom Vorsitz der For-schungsstelle Osteuropa an der Bremer Universität zurück.
s
23.9.94 In der Reihe „Die zwanzig schönsten Sätze“ veröffentlicht die taz die zwanzig schönsten Sätze aus dem neuen Band der bremischen Literaturzeitschrift „Der Stint“. Mehrere Leser lachen sich krank und gehen daraufhin nicht zur Arbeit. Andere Folgen sind weitaus gravierender. Zum Beispiel stellt der Stint-Verlag am nächsten Tag die Zusendung von Rezensionsexemplaren an die taz „für alle Zeiten“ ein, wie der Herausgeber Bernd Gosau im kleinen Kreise bekanntgibt. „Das ist doch nur noch menschenverachtend! Oder sind wir vielleicht schon wieder soweit, daß man renommierte Literaturzeitschriften vor einer johlenden Menge zitieren darf?“
s
5.10.94 In einer Vorabveröffentlichung des „Spiegel“ wird behauptet, der neue Intendant des Bremer Theaters, Klaus Pierwoß, sei jahrzehntelang unter dem Decknamen „Schatz“ Inoffizieller Mitarbeiter („IM“) der Staatssicherheit der DDR („Stasi“) gewesen. Unterlagen aus der Gauck-Behörde ließen allerdings den Schluß zu, daß Pierwoß trotz Ermahnungen seinem Führungsoffizier immer und ausschließlich über seine eigene Arbeit berichtet habe. Pierwoß dazu auf einer eilig anberaumten Pressekonferenz: „Das ist schon deshalb Quatsch, weil ich seit 25 Jahren KGB-Agent bin.“
s
11.11.94 Das Forum Langenstraße gibt bekannt, es sei nun „voll ausgebucht“, das neue Konzept gehe „hundertprozentig auf“. Allein im laufenden Jahr seien bereits zwanzig Ausstellungen und Großveranstaltungen geplant, darunter die große Leistungsschau des Kampfhahnverbandes Niederweser, eine Comictauschbörse des „Nick der Weltraumfahrer“-Fanclubs und das Sechstagerennen. Den „Schwerpunkt Fotografie“ erfülle im Dezember planmäßig der große Bremer Industrieanlagenbauer Pilzer mit seiner Schau „Die Fotozelle als Schlüsselelement der Regelungstechnik einst und jetzt“. Daneben werde dem Focke-Museum, dem bbk, der Sparkasse, der Kammerphilharmonie sowie den Mineralienfreunden e.V.. und nicht zuletzt dem Schnürschuhtheater Gelegenheit gegeben, Projekte bzw. Proben durchzuführen, wenn nicht gerade die Stadtbibliothek ihren zentralen Verleihverkehr dort ausübt, wie es ebenfalls vorgesehen ist, jedenfalls stundenweise. „Das wird ein Leben wie in der Bostoner Chaucery Street“, schwärmt der Kulturstaatsrat Schwandner.
s
12.11.94 Am nächsten Tag tritt das Überseemuseum mit der Klage an die Öffentlichkeit, es sei ihm nicht zuzumuten, „jede Nacht zwanzig Lastwagenladungen“ in die Langenstraße zu schaffen, „und morgens wieder retour“. Nach dem Willen der Kulturbehörde sollte das Forum „in den unausgelasteten Nachtstunden“ dem Übersee-Museum als Ausweichmagazin dienen. „Es gibt tatsächlich ein gewisses Transportproblem“, räumt der Staatsrat Schwandner ein, „aber der Häfensenator hat uns schon seine Unterstützung zugesagt unter der Bedingung, daß der Transport auf dem Seeweg stattfindet. Ich denke, das kriegen wir auch noch hin“.
s
2.12.94 Der stadt- und auch landesweit bekannte Kabarettist Ulrich Reineking-Drügemöller („das Urdrü“) verhandelt zwei Stunden lang an einem geheimgehaltenen Ort (Café Kukuk) mit der Bremer Kultursenatorin Dr. Helga Trüpel über eine mögliche Kandidatur als Intendant des Niederdeutschen Theaters in Walle (trad.: Ernst- Waldau-Theater). Bei einem Vieraugengespräch in der Szenegaststätte „Die Schule“ hatte er eine Woche zuvor gegenüber einem Headhunter der Kulturbehörde von einer gewissen „anarchistischen Wucht“ des Begriffs „Nieder(!)deutsch“ gesprochen. Nachdem man sich über die Person des Chefdramaturgen sofort einig war (Bernie Kelb), brach man die Verhandlungen später ergebnislos ab, weil Reineking-Drügemöller auf der Amtsbezeichnung „Prinzipal“ bestand.
Burkhard Straßmann Manfred Dworschak
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen