: Die Suche nach Ganzheit
■ New Yorker Autor Andrew Vachss besuchte Hamburg und sprach über sein neues Buch
Die Halle des solide glitzernden Atlantic-Hotels scheint nicht für ihn gebaut. In Jogging-Schuhen, ausgebeulter Hose und schwarzer Lederjacke wirkt Andrew Vachss kaum wie der renommierte New Yorker Rechtsanwalt und medienerfahrene Thriller-Autor. Zum ersten Mal ist der 50jährige in Deutschland, um sein neues Buch Shella vorzustellen, und um auf die Problematik, mit der er sich zeit seines Berufslebens - als Anwalt und als Autor - beschäftigt hat, hinzuweisen: Den sexuellen Mißbrauch von Kindern.
Shella, die Stripperin, gab dem Roman den Titel, aber sie erscheint erst ganz am Ende des Buches. Warum haben Sie es nicht nach dem Ich-Erzähler Ghost betitelt?
Shella ist eher der Name seiner Suche. Ghost ist keine Person, er möchte eine sein. Er glaubt, das kann er, wenn er Shella wiederfindet. Es geht mehr um die Suche als um ihn.
Er rettete Shellas Leben, als sie bedroht wurde und geht dafür in den Knast. Er nimmt den gefährlichen Mordauftrag an, um sie zu finden - das läßt ihn tough und stark wirken.
Daß Ghost so brutal sein kann, macht ihn nicht tough. Seine Persönlichkeit, seine Spiritualität ist in seiner Kindheit so zerstört worden, daß er sich selbst von seinen Handlungen abspaltet. Töten ist kein Vergnügen für ihn.
Sie lassen den Leser lange im Unklaren, ob diese Shella existiert.
Tatsächlich könnte sie auch nur in seinem Kopf existieren. Als er sie findet, ist sie ja weit weniger real, als er sich das vorgestellt hatte. Er verwechselt den Umstand, daß Shella und er ähnliche Schrecken in der Kindheit durchmachten, mit einer authentischen Bindung - denken Sie an Veteranenverbände: Das einzige, was die verbindet, ist, daß sie im gleichen Krieg waren, aber sie machen sich vor, daß da viel mehr gewesen sei.
Gegen die geballte Propaganda in dem Nazi-Camp, dessen Boß er erledigen soll, ist Ghost immun.
Er ist nicht immun, er ist taub. Er hat keine echten Gefühle mehr. Es ist egal, was ihm Leute erzählen.
Wieso haben Sie ihn für den Auftrag in ein Nazi-Camp geschickt?
Ich gebrauche die Nazis als Metapher für Tribalismus. Nicht Rassismus ist das größte Problem auf der Welt, sondern diese Bewegung sich abzuschotten, Gruppen auseinanderzuhalten, zum Beispiel indem man einer Nation bestimmte Eigenschaften anheftet: In Israel schauen alle aufs Geld, in Afrika sind alle faul, Deutsche sind Faschisten. 50 Jahre später haben nun die Deutschen die historische Chance, das Gegenteil zu beweisen. In den USA werden die Skins ignoriert, aber wären sie chinesischer oder spanischer Herkunft, würden Hilfs-Kommitées gegründet. Da sie weiß sind, meint man, sie hätten Zugang zur Kultur. Das Nazi-Element steht in Shella für eine Analogie zum Kindesmißbrauch in größerem Rahmen. Wer eine reine Rasse züchten will, muß Sex mit seiner Schwester machen.
Fragen: Julia Kossmann
Andrew Vachss, „Shella“, Eichborn-Verlag, 36 Mark
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