Glatzen und Mittelscheitel

Kantonesisches Kino ist so avanciert und überraschend wie derzeit kein anderes. Und schön durcheinander: Dynastiekämpfe, Männergefechte und Liebesdramen massieren Zwerchfell und Seele. Hongkong-Mitternachtsfilme im Forum  ■ Von MAERZ

Noch vor wenigen Monaten boomten in Hongkong die vor drei Jahren wiederbelebten Genres des wu xia pian, des ritterlichen Kampffilms. Inzwischen kann man eine Übersättigung der Kinogänger Hongkongs feststellen. Und die Verfallserscheinungen des Genres sind nicht zu übersehen. Immer abstrusere Formen nehmen die Filme an, in denen die Darsteller wie Cruise Missiles durch die Luft zischen. Selbst gutmütige Kantonesen sind inzwischen etwas davon angeödet.

Zwei wunderschöne, originelle Gegenbeispiele sind „The Tai-Chi Master“ und „Fong Sai Yuk“ (in beiden Filmen spielt übrigens das begnadete Kampftalent Jet Li Lianjie die Hauptrolle). Zusätzlich kann man sich in „'92 The Legendary La Rose Noir“ und „C'est La Vie, Mon Cherie“ über den Stand anderer aktueller Genres informieren. Yuen Woo-ping führt in „The Tai-Chi Master“ die Entwicklung der Martial arts-Filme mit klassischen Mitteln fort. Dank brillant choreographierter und gefilmter Kampfszenen und dank seines Hauptdarstellers Jet Li geht das Konzept auf. Nachzieher werden es da schwer haben.

Von der Pekingoper zum Wu-xia-Kampfstil

Yuen Woo-ping kommt aus einer Familie mit ausgeprägter artistischer Tradition. Sein Vater, selber ein bekannter Darsteller und Kampfchoreograph, unterrichtete ihn in der komplizierten Kunst der Pekingoper und lehrte ihn die verschiedenen Kampfstile der nördlichen Wu-xia-Schule. In vielen Filmen setzte er seit den frühen Siebzigern dieses Können als Choreograph von Kampfszenen ein. Auch in den Achtzigern, als niemand mehr die historischen Kampffilme sehen wollte, konnte Yuen seine Talente mit den halsbrecherischen modernen Actionfilmen der „Tiger Cage“-Serie in den Vordergrund spielen und mußte nicht in der Versenkung verschwinden wie viele seiner Kollegen. Seit dem rneuten Erfolg des Kostümfilm und seit seinen überragenden choreographischen Leistungen in der „Once Upon A Time In China“- Serie, ist er einer der gefragtesten Regisseure in diesem Genre. „The Tai-Chi Master“ ist Yuens bislang anspruchsvollster Film in diesem Genre, um Klassen besser als sein ähnlich gelagerter Film „Drunken Tai-Chi“ von 1984.

Die Handlungsstruktur des „Tai-Chi Master“ ist bewußt einfach gehalten, damit man sich ganz auf die balletthafte Schönheit der Konfrontationen konzentrieren kann. Jet Li und sein hitzköpfiger Kumpel Chin Siu-hou sind Schüler des ehrwürdigen Shaolin-Tempels. Nach einer ersten furiosen Massenkampfszene fliegen sie in hohem Bogen aus den geweihten Mauern. Aufgrund ihrer etwas weltfremden Erziehung geraten sie in der richtigen Welt ziemlich schnell in größte Schwierigkeiten. Was tun? Chin beschließt, seine Talente gewinnbringend an den Mann zu bringen. Er will mindestens General werden – mit allen Mitteln. Der im Glauben gefestigte Li gerät schnell in die Kreise der edlen Rebellen. Nach einer aufsehenerregenden mentalen Krise Lis, die dem Film einige saftige Debilenwitze erlaubt, und der nachfolgenden mystischen Einweihung kulminiert seine neugewonnene Spiritualität in den Offenbarungen der Drehpunkt-, Achsen- und Gleichgewichtsphilosophie des neuen, überlegenen Tai-Chi- Kampfstils: chinesische Philosophie wie in den tollen Lehrfilmen der „Sendung mit der Maus“. In den Schlußauseinandersetzungen bekommt man wieder alles zu sehen, was Martial-arts-Filme sehenswert macht: Liebe, Leidenschaft, Gewalt. Michelle Yeoh (auch bekannt als Michelle Khan; seit ihrer Trennung von Filmmogul Dickson Poon glücklicherweise dabei) als unglückliche Trinkerin mit immensen Kampffähigkeiten, rundet das Ganze durch elegant- wuchtigen Liebreiz ab. Sie entwickelt sich zur echten Diva. Allein ihretwegen sollte man sich „The Tai- Chi Master“ nicht entgehen lassen.

Vom Kampfmeister zum Schlitzohr

Gut zwei Drittel der zehn in Hongkong erfolgreichsten Filme kamen 1993 aus dem Genre der Kostümfilme. Platz fünf belegte „Fong Sai Yuk“. Trotz hoher Einspielergebnisse ist selbst Tsui Harks Kostümfilmen die (offen zugegebene) Lust- und Einfallslosigkeit anzusehen. Und das, obwohl Tsui mit dem ersten „Once Upon A Time In China“-Film, der seinen Hauptdarsteller Jet Li zum Superstar der historischen Kampffilme machte, vor drei Jahren maßgeblich diesen Trend initiierte.

Ebenso wie die Figur des jugendlichen Tai-Chi Masters ideal zu Jet Lis Image und seiner Ausstrahlung paßt, liegt ihm die Figur des Fong Sai-yuk. Hier kann Li seine vorwitzige, bengelhafte Schlitzohrigkeit ausspielen, die er sich seit seinem ersten Film „Shaolin-Tempel“ (1982) als damals unbekannter rotchinesischer Kader-Kid bewahren konnte. In beiden Filmen kann er sich von den Vorgaben des strengen, reservierten Kampfmeisters und Arztes Wong lösen – und seine Natürlichkeit ist es, die ihn in wenigen Jahren erfolgreich machte.

„Fong Sai Yuk“ ist ein typischer Hongkong-Spin-off. Als abzusehen war, daß das Publikum um das chinesische Neujahr herum (eine günstige Plazierung für neue Filme) nicht drei Filme über den zur Legende gewordenen Wong Fei-hong verkraften würde, mußte ein neuer Held her. Yuen Kwai fand ihn in Fong Sai-yuk, der – ebenso halbauthentisch wie Wong- Fei-hong – schon seit Jahrzehnten in Dutzenden von Filmen immer wieder auftaucht. Für Jet Li war ohnehin nach „Once Upon A Time In China 3“ und Wong Jings „Last Hero In China“ vorläufig Schluß. Er wurde Koproduzent und Darsteller des Fong-Sai-yuk, der seit 1986 keine Neuauflage mehr erfahren hatte. Sehr schön ist in puncto name dropping natürlich auch, daß Lis fieser Gegenspieler in „Fong Sai Yuk“, Chiao Man- cheuk, sofort die vakante Rolle des Wong in „Once Upon A Time In China 4“ bekam, der im Frühsommer um eine Nasenlänge vor „Fong Sai Yuk 2“ (natürlich mit Jet Li) startete. Etwas kompliziert? So ist das nun mal mit Hongkong-Filmen.

Ebenso schön durcheinander ist die Handlung von „Fong Sai Yuk“. Neben allen möglichen und unmöglichen Plot-Verwicklungen steppt man zwischen Komödie, Tragödie und Melodram hin und her; alles sehr charmant inszeniert und fein getimt. Regisseur Yuen Kwai beweist, daß er ebenso ein Meister der Nuancierung und der komplexen Verschachtelung wie der Kampfkunst ist.

Vom Student zum Freiheitskämpfer

Wie so oft in traditionell ausgerichteten Kampffilmen geht es um den Konflikt zwischen den Han-Chinesen und der aufgezwungenen Ching-Dynastie der Mandschus. Der Süden mit dem mächtigen Zentrum Guangzhou (Kanton) war immer wieder Ausgangspunkt der Auflehnung. Durch die Rolle von Fongs Vater als Führer der lokalen Widerstandsgruppe wird Fong aus der Unbeschwertheit seiner Studententage in die Rolle eines Freiheitskämpfers gedrängt. Sein Gegenspieler ist ein hoher Offizier der Regierung, ein meisterhafter wie fieser Kämpfer. Bevor sich die Rivalität der beiden in grandiosen Gefechten entladen kann, wird einem von heftigen kantonesischen Screwball-Verwechslungseskapaden kräftig die Bauchgegend durchgeschüttelt.

Es geht dabei um die Irrungen und Wirrungen des Herzens, die Michelle Reis (eigentlich: Michelle Li chia-yan) auslöst, deren Hand der Preis für ein gewonnenes Kampfturnier gegen ihre Mutter ist, die von Sybella Hu Hui-chung gespielt wird. Nach einigen atemlos durchrauften Minuten auf dem handelsüblichen wackeligen Klettergerüst springt der Kampf auf die Köpfe der Zuschauerschar über. Imposant bedient man sich der Rutschfestigkeit von Glatzen gegenüber unsicheren Mittelscheiteln. Sai-yuk verliert den Kampf nur knapp. Das kann sich seine stolze Muter nicht bieten lassen. Josephine Siu Fong-fong (eine engagierte Film- und Fernsehproduzentin und seit den frühen Sechzigern ein Star der Martial arts- Szene; im „Panorama“ auch in dem wunderbaren „Always On My Mind“ zu sehen) greift ein. Sie gibt sich als der Bruder Fong Tai- yuk aus und gewinnt ritterlich nicht nur die Hand der schönen Tochter, sondern auch das Herz ihrer martialischen Mutter. Hier beginnt sich die Handlung genüßlich und präzise kalkuliert zu überschlagen, wird aber vor dem totalen Abdrehen durch die zweite Hälfte des Films aufgefangen. Für Siu Fong- fong bedeutete diese grandios gespielte Rolle neuen Starruhm. Als alles überstanden ist und man standesgemäß in den Sonnenuntergang reitet, ruft Michelle Reis vom Rücken ihres Pferdes: „How romantic! I'm so happy!“ Dazu noch der zarte Titelsong von James Wong und Romeo Diaz, und man weiß, in welcher Form einem das Glück entgegentreten wird.

Vom größten Schmerz zum höchsten Glück

Mit „C'est la vie, mon Cheri“ von Derek Yee Tung-Shing gibt es ein völlig anderes populäres Genre des gegenwärtigen Hongkong-Kinos zu entdecken. Der Film entwickelte sich durch Mundpropaganda zu einem typischen „Legs“- Phänomen und überrascht durch seine Standfestigkeit an den Kinokassen. Durch diesen Erfolg ermutigt, spekulieren einige Kritiker auf eine neue Blüte des kantonesischen Melodrams, das bis zum Ende der sechziger Jahre eines der zugkräftigsten Filmgenres war. Erst mit der sogenannten „neuen Welle“ der gesellschaftskritischen Filme, die ab Ende der Siebziger bis in die mittleren Achtziger eine Trendfunktion einnahmen und sich zum Teil gewisser Stilmittel des Melodrams bedienten, setzte eine Wiederbelebung dieser Tradition ein. Filme, die als reine Melodramen anzusehen sind, konnten auf kontinuierliches Interesse des Publikums rechnen. Vertreten diese ernsten Filme wie zum Beispiel bei Ann Hui (sie muß sich inzwischen mit „künstlerischer Gestaltung“ bei „Fong Sai Juk“ begnügen) allerdings einen eher intellektuellen Anspruch, ist, anders als zu Beginn der Achtziger, ein Mißerfolg vorprogrammiert. Gefragt ist auch hier eine ausgeprägte Regelhaftigkeit.

Derek Yee gehört zu den wenigen Regisseuren, die seit Jahren eher unkommerziell arbeiten. Yee hat sich nicht auf die verbreitete „Ausverkaufspraxis“ eingelassen, nach ersten künstlerisch vielversprechenden Arbeiten ins Lager der Auftragsregisseure einzuschwenken. Als Bruder von David Chiang, einem der bedeutendsten Martial arts-Stars der siebziger Jahre, gelangte er über die Shaw Brothers ins Filmgeschäft. In den letzten Jahren trat er in über einem Dutzend Filmen auf. Er kann seine Regieprojekte sorgfältig auswählen. Dafür sprechen Filme wie „The Lunatics“ oder „People's Hero“.

Wer Spaß daran hat, mal wieder eine gepflegte halbe Stunde durchzuflennen, ist hier bestens aufgehoben. Für Patienten, die an steinernem Herzen leiden, wäre dieses Genre als Wurmkur gegen Bewußtseinsparasiten zu empfehlen. Hier wird man durchgenudelt, plattgemacht, breitgewalzt, wieder aufgebaut. reines Kino.

Zum Erfolg von „C'est la vie“ hat sicher beigetragen, daß er in allen wichtigen Rollen glänzend besetzt ist. Carrie Ng und Fung Bo-bo zeigen ihre Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit, Paul Chun Pui endlich mal wieder in einer guten und Sylvia Chang in einer typischen Rolle. Es wimmelt nur so von Cameo-Auftritten. Lau Chin- wan spielt einen griesgrämigen Jazz-Komponisten, der lieber Karriere und Freundin (Carina Lau) sausen läßt, als sich weiter korrumpieren zu lassen. Aus seiner Villa zieht er in die schäbigste Gegend Mong Koks, der Gegend mit der höchsten Siedlungsdichte der Welt.

Hier pulsiert das Leben, das richtige, unverfälschte, usw. Dort trifft er einen wahren Ausbund an Lebendigkeit, eine junge Sängerin, die mit ihrer Familie in der Temple Street kantonesische Opernarien aufführt. Sie wird dargestellt von Anita Yuen, dem unbestrittenen Newcomer-Star. Der totale Kumpeltyp: ruppig und zerbrechlich, frech, quiekend, hüpfend, mit Lebendigkeit für zehn. Sie entwickelt ein Strahlen, das ganzen Straßenzügen den Weg ins Glück leuchten könnte. Als die Romanze auf vollen Touren läuft, klopft das Schicksal an die Tür. Die kleine Sängerin hat Knochenkrebs. „I walked through the valley of death“, hatte sie zur Antwort gegeben, woher sie in so jungen Jahren ihre unglaubliche Lebensweisheit hätte. Damit beginnt ihr Sterben.

Dampfmaschinen- Virtualität

Träumen Chinesen eigentlich von elektronischen Filmstars? Die Filmindustrie Hongkongs hat die Postmoderne hinter sich gelassen. Sie produziert in gewisser Weise schon interaktives Kinogeschehen, natürlich noch nicht richtig cyberspacig. Es ist eher noch eine Art Dampfmaschinen-Virtualität. Dennoch wird gerade in Hongkong die japanische Game-Kultur konsequent auf den Punkt gebracht. „Fong Sai Yuk“ brachte beispielsweise die Neuerung, gleich zehn Pfeile auf einmal abzuschießen. Die Antwort darauf kam schon wenige Wochen später mit „Butterfly And Sword“. Dort schießt sich der Schütze in bester Münchhausen-Tradition als Humanpfeil selber mit dem Bogen ab. Es gibt zur Zeit nirgends eine Kinokultur, die so avanciert und unkonventionell ist wie die kantonesische. Es ist ein Universum mit eigenen Regeln, das sich nach ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt und wildgeworden mutiert. Film ist in Hongkong nicht nur ein Spiegel der Gesellschaft, sondern ebenso einer ihrer Motoren.