: Tour en miniature
Das traditionsreiche Etappenrennen Paris–Nizza ist der erste echte Prüfstein der Radsportsaison 1994 ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Nach den üblichen kleineren Geplänkeln im Mittelmeerraum und den obligatorischen Querelen, ob der Spanier Miguel Induráin als Aufgalopp zur Tour de France die Spanien-Rundfahrt oder den Giro d'Italia bestreiten wird (wie in den beiden letzten Jahren wählte er den Giro, versprach seinen Landsleuten aber, dafür im nächsten Jahr endlich die ungeliebte „Vuelta à Espana“ zu gewinnen), wird es in dieser Woche erstmals richtig ernst im Radsportjahr 1994. Seit Sonntag läuft das Acht-Etappen-Rennen Paris- Nizza, dabei ist nahezu alles, was Rang und Namen hat.
„Paris-Nizza ist wie eine kleine Tour de France“, sagt Manolo Saíz, Direktor des ONCE-Teams, auch wenn es in diesem Jahr keinen Prolog gab und auch kein Mannschaftszeitfahren auf dem Plan steht. Dafür bietet die Strecke Bergankünfte, Einzelzeitfahren und Flachetappen für die Sprinter. Alles einige Nummern kleiner als bei der Tour, aber: „Der Charakter ist derselbe“ (Saíz). Genau das richtige Terrain für ein erstes Kräftemessen.
Dabei sind die Intentionen der Teilnehmer durchaus unterschiedlich. Paris–Nizza ist, sieht man einmal von der siebenjährigen Dominanz des Iren Sean Kelly (1982–1988) ab, in den letzten Jahren vor allem ein Rennen, bei dem die Topstars der Zukunft erstmals ernsthaft die Wadenmuskeln spielen lassen und ihre Anwartschaft auf Erfolge auch bei großen Rundfahrten kundtun. Induráin gewann 1989 und 1990, der Schweizer Tony Rominger 1991 und im letzten Jahr der designierte Induráin-Nachfolger, der 25jährige Schweizer Alex Zülle aus dem ONCE-Team. „Er muß hier nichts mehr beweisen“, weist Saíz den Gedanken an einen erneuten Triumph seines besten Pedaleurs diesmal allerdings zurück. Das vorrangige Ziel des aufstrebenden Alpenländers ist es, erstmals bei der Tour ein gewichtiges Wort mitzureden.
Auch Induráin muß nichts beweisen, andererseits kann es nicht schaden, der Konkurrenz schon mal zu solch frühem Zeitpunkt die Zähne zu zeigen, nachdem der elegante und merklich selbstbewußter, sprich: frecher, gewordene Spanier letzte Woche in Valencia bereits ein Zeitfahren gegen seinen größten Rivalen Rominger gewonnen hatte. „Er kommt als Zuschauer“, verlautet es aus dem Banesto-Team des dreimaligen Toursiegers, „aber wenn sich eine Gelegenheit bietet, wird er sie wohl ergreifen.“ Ähnlich dürfte Rominger die Sache sehen, während der Italiener Gianni Bugno nach seiner total verkorksten letzten Saison eigentlich etwas ehrgeiziger an die Sache herangehen wollte. Doch schon am ersten Tag verlor der Weltmeister von 1991 und 1992 31 Sekunden auf die Konkurrenz.
Die ersten beiden flachen Etappen des Rennens, das am Sonntag mit einem 12,5 Kilometer langen Einzelzeitfahren auf den Col d'Eze in Nizza zu Ende geht, gehörten naturgemäß den Sprintern, die in beeindruckender Stärke vertreten sind. Außer dem verletzten Belgier Wilfried Nelissen ist die Crème der Flieger und Rempler vertreten, von den Italienern Mario Cipollini, Adriano Baffi, Fabio Baldato über den Usbeken Dschamolidin Abduschaparow und den Franzosen Laurent Jalabert bis zum Belgier Johan Museeuw und dem Deutschen Olaf Ludwig, die allerdings zunehmend Schwierigkeiten haben, den italienischen Spurt-Assen auf den Fersen zu bleiben.
Auf der ersten Etappe von Paris nach Orleans wurde Ludwig Fünfter, auf der zweiten von Orleans nach Nevers Zehnter. In Orleans hatte Cipollini eine Reifenbreite Vorsprung vor Baldato, seinem ehemaligen Teamkollegen, in Nevers war es umgekehrt. Baldato, bereits sechsmal Zweiter in dieser Saison, holte sich den Etappensieg.
Der Gelackmeierte der großen Drei des italienischen Sprints bei Paris–Nizza war bislang Adriano Baffi, dem bei „Mercatone“ der „Schöne Mario“ Cipollini vor die Nase gesetzt wurde. Auf der ersten Etappe machte Baffi die ganze Arbeit, Cipollini schöpfte am Ende den Rahm ab. Für das Team ist die Konkurrenz der beiden allerdings recht lohnend, schon dreizehn Siege haben sie gemeinsam auf dem Buckel. Cipollini kündigte derweil an, daß er in diesem Jahr bei allen drei großen Rundfahrten in Spanien, Italien und Frankreich starten wird, ohne sie allerdings unbedingt bis zu Ende zu fahren: „Das Wichtige ist, Etappen bei allen drei Ereignissen zu gewinnen.“
Davon kann der Altmeister des Sprints, der 38jährige Sean Kelly, nur noch träumen. Dennoch hat er sein Karriereende wieder hinausgeschoben und ist unverdrossen auch bei seinem einstigen Paraderennen dabei. Kelly fährt 1994 für das „Catavana“-Team, das eigentlich zur Förderung von Jungprofis gedacht war, inzwischen aber eine Art „Elefantenfriedhof“ (El País) ist. Neben Kelly fahren auch die bei Telekom ausgemusterten Brüder Marc und Yvon Madiot für Catavana. Die Erfahrung der Veteranen soll vor allem einem jungen Mann zugutekommen, der kürzlich bei der Mittelmeer-Rundfahrt mit einem fünften Platz verblüffte: dem 19jährigen Frank Vandenbrouke, in Belgien schon, wie so viele vor ihm, als neuer Eddy Merckx gefeiert. Auf seinen Auftritt bei Paris–Nizza sind nicht nur die Belgier gespannt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen