„Wie früher wird es hier nie wieder sein“

Ein Jahr kämpften in Zentralbosnien Muslime gegen Kroaten / Seit zehn Tagen schweigen die Waffen  ■ Aus Vitez Erich Rathfelder

Von allen Seiten haben sie auf uns geschossen. Wir waren völlig überrascht, nur 30 Polizisten waren hier, um die Verteidigung zu organisieren.“ Emir K. ist immer noch erbost, wenn er daran denkt, wie der Krieg in der Altstadt von Vitez begonnen hatte. Als am 16. April 1993 um 5.45 Uhr der kroatische Verteidigungsrat HVO das traditionelle Muslimviertel der knapp 20.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt einnehmen wollte, quälte sich Emir K. aus dem Bett und griff nach dem Gewehr, das seit Beginn des Krieges durch die serbischen Nationalisten neben dem Nachttisch gestanden hatte.

„Alle Nachbarn waren da, und als einer der Polizisten kam, gingen wir zusammen vor zu dieser Linie.“ Und er zeigt auf eine kaum 200 Meter entfernte, ziemlich ramponierte Häuserreihe. Die Dächer sind durch Artilleriegranaten allesamt zerstört, viele der Außenwände weisen große Löcher auf. „Das war die kroatische Artillerie, über tausend Granaten wurden seither auf uns abgeschossen.“ Zehneinhalb Monate lang tobte der Kampf. „Wir lebten in den Kellern, doch wir haben nicht aufgegeben. Jetzt haben wir es wohl geschafft.“

Seit mehr als zehn Tagen, seit in Washington die Absichtserklärung über eine Förderation zwischen Restbosnien und Kroatien unterschrieben wurde, schweigen die Waffen in diesem Krieg zwischen den ehemaligen und erneut Verbündeten, den Kroaten der HVO und der bosnischen Armee. Von kleineren Zwischenfällen abgesehen, habe sich jede Seite an den Waffenstillstand gehalten. „Dank sei Präsident Clinton, Dank sei den Amerikanern, und Dank sei Allah, daß jetzt nicht mehr geschossen wird!“

Etwas abgehärmt stehen sie da: Emir, der 32jährige ehemalige Bauarbeiter, die etwas jüngere Ehefrau Mariana und die drei Kinder zwischen sechs und elf Jahren. Die Kleider sind abgetragen, die Schuhe löcherig. Ihr Haus ist eines der wenigen, das den Krieg fast unbeschadet überstanden hat. Der Garten ist umgegraben, ist für die Aussaat bereitgemacht, einige Tulpen strecken ihre roten Blüten der wärmenden Frühlingssonne entgegen, die Katze streicht um das Gatter.

Zu essen hätten sie gehabt, denn wie alle Nachbarn haben auch sie schon vor dem Krieg Vorräte angelegt. „Und dann, nach einem Monat der Belagerung, kam ja der erste Hilfskonvoi.“ Im Garten wuchsen Zwiebeln, Knoblauch, Kartoffeln, Tomaten und Salat. Zwar nicht „viel, aber wir mußten bis auf ein paar Wochen im letzten Winter eigentlich nicht hungern, wir konnten sogar noch denen abgeben, die ihr Haus verloren hatten“. Und wieder steigt die Freude auf, daß endlich nicht mehr geschossen wird. „Wenn wir wieder rauskönnen, die Stadt wieder verlassen können, werden wir Baumaterialien kaufen und alles reparieren.“

Die Schuldigen sollen bestraft werden

Doch noch ist es nicht soweit. Die rund 1.500 Menschen in der Altstadt von Vitez werden sich etwas gedulden müssen. Für die Öffnung der Stadt gebe es noch kein Datum, erklärt der Kommandant Sefkija Djidić, der Verteidiger des einen Quadratkilometers von Stari Vitez. Der ehemalige Universitätsprofessor mit dem Fach „Verteidigungstheorie“ konnte seine Lehre in die Praxis umsetzen, „und es hat funktioniert“, schmunzelt er. Die von Anfang an bestehenden Frontlinien seien heute noch gültig, die Angreifer hätten keinen Quadratmeter an Boden gewonnen.

Auch er freut sich jetzt über den Waffenstillstand: „Wir müssen an die Überlebenden denken, die Toten werden wir jedoch nie vergessen.“ 56 Menschen sind getötet und 130 verwundet worden; drei Kinder zählen zu den Toten, viele wurden verletzt. Es fällt Djidić sichtlich schwer zu akzeptieren, daß aus den beiden verfeindeten Armeen wieder eine entstehen soll. „Wir wurden nicht gefragt.“ Die Versöhnung werde zustande kommen, doch die an dem Krieg Schuldigen sollten bestraft werden. Sein Blick schweift über den Ort, wo am 16. April vorigen Jahres ein mit Explosivstoffen beladener Lastwagen von der kroatischen Seite in die Altstadt rollte. Ein tiefes Loch auf der Straße markiert die Stelle; an die Häuser und die Moschee, die einst hier standen, erinnert nur noch der aufgehäufte Schutt.

An dem blutigen Wochenende, dem 16., 17. und 18. April, hatte die HVO zahlreiche bosnischen Stellungen angegriffen. Im kaum sechs Kilometer entfernten Dorf Ahmici wurden über hundert Menschen massakriert und in ihren Häusern verbrannt. Es waren die Tage nach dem Ultimatum Mate Bobans vom 15. April, demzufolge sich die bosnische Armee dem Oberbefehl der HVO unterstellen sollte. Nach den Angriffen der HVO begann der „unorganisierte“ Kampf zwischen Dorf und Dorf. Einige Tage später brannten auch kroatische Häuser, und kroatische Familien mußten aus ihren Dörfern fliehen. Ejub F. lehnt es ab, die einfachen Leute als schuldig zu bezeichnen.

Der 40jährige ehemalige Angestellte in der Munitionsfabrik der Stadt winkt seinen Nachbarn, Mate K., heran. Der Kroate ist mit seiner Familie wie fünfzig andere kroatische Familien in der Altstadt geblieben. „Wir haben alles gemeinsam durchgemacht, wir haben alles gemeinsam überstanden, wir werden Freunde bleiben.“ Es sei der Faschismus gewesen, die „Extremisten von außerhalb, die alles in Gang gesetzt haben“. Die Leute, so Mate K. weiter, seien in Ordnung, „die politischen Führer haben das gewollt“. Die einfachen Leute seien in den Krieg hineingezogen worden. „Den Führern ging es um die Macht. Und uns geht es deshalb dreckig.“

In dem „Hospital“, einem Keller mit drei Betten und einigen Medikamenten, sind die drei Ärzte versammelt. Patienten sind keine zu sehen. „Da die meisten Leute in den Kellern blieben und dort gelebt haben, sind die Verluste mit 58 Toten relativ gering. Wir mußten häufig operieren und hatten nur wenige Medikamente.“ Fatma R. glaubt nicht, daß die Menschen Bosniens zueinanderfinden werden. „Wie früher wird es nicht mehr sein. Wir werden zwar wieder zusammenleben, doch getrennt.“ Die Kroaten, die Muslime und die Serben, meint Fatima, werden neue Gemeinschaften bilden, doch das bosnische Bewußtsein, „der Wunsch, miteinander zu leben“, das in Sarajevo oder in Tuzla vielleicht noch existiere, werde hier in Zentralbosnien nicht so schnell wiederkehren. Zu viel sei in diesem Krieg geschehen. „Es ist oder war der grausamste Krieg, der vorstellbar ist.“

An der Demarkationslinie der Hauptstraße ist ein Checkpoint entstanden. Blauhelme kontrollieren den kleinen Reiseverkehr der Journalisten und Mitglieder der Hilfsorganisationen. Wie im gesamten Zentralbosnien diesseits des serbisch besetzten Gebietes dürfen die Armeen der Bosnier und Kroaten jetzt keine eigenen Checkpoints unterhalten. Auf jeder Seite stehen zwar einige Soldaten der bosnischen Armee und der HVO, doch die Kontrolle ist nun fest in der Hand der UNO-Leute. „Seither sind die Zufahrtswege nach Zentralbosnien sicherer geworden, die Konvois können wieder rollen“, bemerkt stolz Major James von dem britischen UNO- Bataillon, das in Vitez stationiert ist. „Es ist sehr erfreulich, daß sich die Lage beruhigt hat. Der Krieg zwischen Kroaten und Muslimen scheint wirklich der Vergangenheit anzugehören.“

Auch auf der kroatischen Seite der Demarkationslinie ist etwas Normalität zurückgekehrt. Wie drüben graben die Menschen die Gärten um, die ersten Traktoren wagen sich auf die Felder. Dort, wo es vor zwei Wochen wegen der Scharfschützen noch lebensgefährlich war, entlangzugehen, grasen Schafe, und Kinder tollen auf den Wiesen. Sie könnten von den Hügeln, „dort, wo die Muslime sitzen“, jederzeit beschossen werden, würde der Waffenstillstand nicht eingehalten.

Denn Vitez ist von der bosnischen Armee umstellt, der kroatische Teil bildet selbst eine Enklave. Vitez gleicht einer Matroschka: In dem von der serbischen Armee und der kroatischen HVO eingeschlossenen Zentralbosnien ist die von Kroaten dominierte Region Vitez von der bosnischen Armee eingekesselt, darin wiederum die 1.500 Muslime in der Altstadt von den Kroaten.

Sie verteidigten sich gegen die „islamische Gefahr“

An einigen Ruinen sind Männer dabei, den Schutt wegzuräumen, an einem Haus wird sogar das Dach erneuert. „Ich glaube an den Frieden“, erklärt der Besitzer. Andere bleiben skeptisch. „Es sind so viele Tote liegen geblieben, auch mein Sohn, der erst 20 Jahre alt war.“ Der HVO-Soldat, der dies sagt, deutet auf die Stelle im Vorhof seines Hauses, wo der Sohn von einem Scharfschützen getroffen wurde. In den Fenstern des ersten Stockwerkes sind die Einschußlöcher noch zu sehen. „Auch wir hatten keine ruhige Minute.“ Deshalb könne er sich kaum vorstellen, daß es zu einer einheitlichen Armee und zu einem friedlichen Zusammenleben wie früher kommen könnte.

Im Hauptquartier der HVO sind die Meinungen geteilt. Man werde sich an die Verträge halten, ist das knappe offizielle Statement. Doch Mißtrauen schimmert bei jenen durch, die sich in ein Gespräch verwickeln lassen. Noch immer weist man die eigene Schuld am Ausbruch der Kämpfe weit von sich. Man habe sich nur gegen die „islamische Gefahr“ verteidigt. Überzeugend klingt das nicht. „Sie waren es nicht in der Vergangenheit“, räumt ein ehemaliger Ingenieur aus Zenica ein, doch „die Muslime werden in Zukunft Fundamentalisten sein, sie sind wie Schlangen, sie beißen zu, wenn es keiner erwartet.“ Er will jetzt nur noch eines, „weg von hier, irgendwo anders leben, eine neue Existenz aufbauen. Ich habe Bosnien satt und möchte niemals wieder zurück.“

Vielleicht wollen das jedoch andere. Noch sind die Flüchtlinge, die Vertriebenen, nicht zurückgekommen. In einer Häuserreihe hinter den Kasernen des britischen Bataillons wohnten noch im letzten Sommer die muslimischen Familien Fazlić und Hodzić. Die begabte sprachkundige sechzehnjährige Tochter Dalma Hodzić übersetzte manchmal auch für Journalisten. Die einst liebevoll gepflegte Blütenpracht ist einem Stacheldrahtzaun gewichen, in dem Haus sind britische Offiziere untergebracht, an der Eingangstür des anderen stehen fremde Namen.

„Die Familien sind vielleicht in Zenica“, sagt ein Mann, ein kroatischer Vertriebener, der selbst aus Novi Travnik fliehen mußte, und zuckt seine Schultern. Die britische Armee, die immerhin eines der Häuser bewohnt, will ebenfalls nicht wissen, was mit den Familien geschehen ist, doch es werde nachgeforscht, heißt es im Hauptquartier. Die Spuren dieser Menschen jedenfalls scheinen von dem Krieg verwischt, der am 16. April vor knapp einem Jahr hier begonnen hat.