: Die kleine Raupe Nimmersatt
Erneut droht eine Raupenplage ganze Waldgebiete kahlzufressen / Förster greifen zur chemischen Keule / Dimilin ist besonders bei Ökologen und Insektenkundlern umstritten ■ Von Andreas Sentker
Allenfalls Kinder können noch staunen, wenn aus der kleinen, unscheinbaren Raupe Nimmersatt, nachdem sie sich durch unzählige Kohlköpfe und Kirschtorten gefressen hat, ein wunderschöner Schmetterling wird. Den Forstleuten ist im letzten Jahr das unbekümmerte Verhältnis zu diesem Verwandlungswunder gehörig vergangen. Der unersättliche Appetit von Kiefernspinnern, Nonnenfaltern und Forleulen verursachte in Brandenburg Kahlfraß auf 14.000 Hektar Waldfläche. In diesem Jahr sind 33.000 Hektar von einer Massenvermehrung der gefräßigen Larven bedroht. In Hessen sagen Forstleute einen Eroberungsfeldzug des Schwammspinners auf 14.500 Hektar Wald voraus, damit hat sich die Raupenstreitmacht seit dem letzten Jahr verdreifacht. In Bayern gefährden die Larven 44.000 Hektar Eichenwald.
Alfred Wulf von der biologischen Bundesanstalt (BBA) in Braunschweig findet die Entwicklung nicht sonderlich überraschend. „Das ist ein ganz natürliches Auf und Ab, ein normaler dynamischer Prozeß.“ Das trockene, warme Klima der letzten Jahre hat jedoch zu einer massiven Ausbreitung von Insekten geführt, deren Verbreitungsschwerpunkt der Süden und Südosten Europas ist. Wissenschaftler vermuten zudem, eine neue Unterart des heimischen Schwammspinners sei aus Asien eingeschleppt worden. Genanalysen haben diesen Verdacht bestätigt.
Freßlustige Invasion asiatischer Raupen
Unter der festen, schwammförmigen Hülle der Eigelege, die dem Falter seinen Namen gibt, schlummern bis zu 500 Eier. In besonders stark betroffenen Gebieten findet man bis zu 1.000 solcher Gelege pro Baum. Eine Raupe frißt bis zur Verpuppung einen Quadratmeter Blattfläche. Kiefernspinner und Nonne gelten als deutlich gefährlicher als die laubfressende Schwammspinnerraupe. Während bis zu 90 Prozent der befallenen Laubbäume wieder neue Blätter austreiben, regenerieren Kiefern sehr schlecht. Doch auch der Eiche droht der Garaus. Pilze und Schadinsekten befallen mit Vorliebe die geschwächten Bäume. Wenn, wie jetzt, der wiederholte Kahlfraß droht, sind auch Laubhölzer gefährdet.
Die Ministerien und Forstverwaltungen setzen angesichts der Panikmeldungen zum Gegenschlag an. Bisher hat die BBA zwei Mittel zur Bekämpfung der Raupen zugelassen. Das biologische Präparat ist ein Giftstoff, den Bakterien mit dem wohlklingenden Namen Bacillus thuringiensis kurstaki (B.t.k) produzieren. Ein vom Schering/Hoechst-Zusammenschluß AgrEwo vertriebenes synthetisches Produkt ist das Dimilin. Sein Wirkstoff Diflubenzuron hemmt die Chitinsynthese der Raupen und verhindert damit ihre Häutung. Es trifft, so versichern Forstexperten, nur Insekten, die sich häuten und von Blättern oder Nadeln ernähren. Eine hessische Studie wies aber auch schädliche Einflüsse auf Ameisen nach. Schwerer wiegt der Verdacht, daß mit der Apanteles-Schlupfwespe auch ein natürlicher Feind der Spinner vernichtet wird.
Da der Wirkstoff eine Fläche braucht, auf der er anhaften kann, müssen die Forstverwaltungen den Austrieb der Laubbäume abwarten. Nadelwälder aber können schon frühzeitig behandelt werden. In Sachsen beginnt man bereits in diesen Tagen mit der Bekämpfung der Kiefernspinner. Die Forstleute haben nur wenig Zeit, wenn sie die empfindlichen frühen Larvenstadien treffen wollen. Die Raupen des Kiefernspinners werden im März und April aktiv, die Nonne und der Schwammspinner folgen im Mai. Andreas Pölking vom rheinland-pfälzischen Amt für Umweltschutz kritisiert den frühen Zeitpunkt des Einsatzes. Die frühen Raupenstadien, so Pölking, seien nämlich auch gegenüber ihren natürlichen Feinden besonders anfällig. Mit einem frühen Sprüheinsatz betreibe man eine prophylaktische Schädlingsbekämpfung, anstatt zunächst einmal auf natürliche Mechanismen zu setzen.
Nachdem sich noch im letzten Jahr einige Bundesländer vorsichtig zurückhielten, wurde inzwischen für nahezu alle betroffenen Regionen der Einsatz von Dimilin beschlossen. Angesichts der Größe der bedrohten Areale wird das Insektengift aus Hubschraubern versprüht: Mit 60 bis 75 Gramm des wasserlöslichen Pulvers pro Hektar Waldfläche, so betonen die zuständigen Stellen, liege man noch weit unter der von der BBA zugelassenen Höchstdosierung. Behandelt werden sollen vor allem Flächen, denen zum zweiten Mal der Kahlfraß droht. In Hessen hat man einen Stufenplan entwickelt, der – trotz eines klimatisch bedingten Mißerfolgs im vorigen Jahr – auch den Einsatz von B.t.k. vorsieht.
Mit Hubschraubern gegen Schmetterlingsraupen
Das biologische Präparat hat den großen Nachteil, daß es – vom Regen ausgewaschen und von der Sonneneinstrahlung zersetzt – bereits nach zwei Wochen nicht mehr wirkt, damit sind meist mehrere Flugeinsätze notwendig. Umweltschützer und Ökologen sehen gerade in der Kurzlebigkeit des Präparats einen großen Vorteil. So werden später schlüpfende, zum Teil vom Aussterben bedrohte Arten wie Segel- und Apollofalter nicht von den Maßnahmen betroffen. Dimilin hingegen wird zwar im Boden relativ rasch von Mikroorganismen abgebaut, auf Kiefernnadeln aber ist es noch nach zwei Jahren nachweisbar. Auf einem Treffen führender Insektenkundler aus der Bundesrepublik und angrenzenden europäischen Staaten hatten die Experten bereits im letzten November auf die Gefahren eines großflächigen Einsatzes hingewiesen. Gefährdet seien nicht nur Insekten, sondern auch die von Faltern und Schmetterlingen abhängigen Freßfeinde, darunter bereits gefährdete Säugetiere wie Fledermäuse, Igel oder die Spitzmaus.
Die Forstverwaltungen stehen vor einem Dilemma, wirtschaftliche Erwägungen bestimmen mehr und mehr die Debatte. Alfred Wulf greift zu einem recht drastischen Vergleich: „Keiner würde einen Waldbrand nicht versuchen zu löschen, wenn das irgendwie möglich ist.“ In der ehemaligen DDR war man beim Löschen nicht gerade zimperlich. Dort wurde von 1982 bis 1985 im Bereich der Forstdirektion Chemnitz zur Bekämpfung des Grauen Lärchenwicklers DDT eingesetzt – mit Sondergenehmigung, versteht sich.
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