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Fremdkörper ohne Götterdach

Rasend: Das Bonner Jubiläumsensemble spielt „Die Troerinnen“ nach Euripides  ■ Von Andrea Kern

Als Aristophanes in den „Fröschen“ den Theatergott Dionysos in die Unterwelt steigen läßt, um seinen Liebling Euripides von dort zurückzuholen, kehrt er am Ende doch mit Aischylos zurück. Die in sich zerfurchte und an ihr Ende gekommene Großmacht Athen hatte nämlich dringend einen Tragiker nötig und Dionysos, obwohl er eigentlich dem Euripides zuneigte, wußte genau, daß in Zeiten der Not mit Euripides rein gar nicht zu helfen war.

Denn Euripides dachte als erster modern. Kein Götterdach überwölbt mehr seine Tragödien, keine Rechtfertigung gibt er mehr für das grausige Schicksal. Das Jubiläumsensemble aus Bonn zeigt derzeit im Theater am Halleschen Ufer – innerhalb der Aufführungsreihe zum Thema Gewalt und Verzweiflung – „Die Troerinnen“ von Euripides und beglaubigt zu Recht die politische Modernität dieser finsteren und illusionslosen Perspektive. Schauplatz der Tragödie ist das Lager der gefangenen trojanischen Frauen vor den Ruinen der besiegten Stadt. Reste einer ehemals heimatlichen Welt starren wie Fremdkörper von der Bühne, eine verschrammte Badewanne, ein Sofa, ein abgewetzter Gasherd, Ziegelsteine kreuz und quer, alles in helles, lehmiges Gelb-Braun getüncht.

Das Stück ist ein einziger Jammer. Es wird kein tragischer Prozeß erst noch entfaltet, sondern die Ohnmacht der Personen und damit die Perspektive des Opfers ist von Beginn an gesetzt: Der Krieg ist verloren, die gefangenen Frauen harren nurmehr ihres düsteren Schicksals. Hekabe, die alte Königin Trojas, schreit ihre Klage in den Himmel hinauf, denn nichts blieb ihr, kein Mann, kein Kind, kein Haus. Nun raubt man den Frauen noch das letzte: den eigenen Leib. Per Los fiel eine jede einem griechischen Sieger ins Bett. Drei Frauen sind hervorgehoben – zwei tragen ein mit Pelzkragen besetztes Kostüm, die dritte ein weißes, kurzes Brautkleid, sie wird später als Kassandra und dann als Helena erscheinen – doch ansonsten sind die Rollen nicht zugeteilt. Denn alle Frauen sind Hekabe. Spricht sie, so sprechen alle, mal chorisch, mal nacheinander, mal versetzt, doch stets ist es dieselbe Rolle: Das Schicksal der Frauen ist eins. Es wird nicht mehr unterschieden zwischen Hekabe und dem Chor, der Königin und dem Volk.

Auch für die vier Männer hat Regisseur Rhys Martin das Konzept der Rollenverdoppelung und des steten Rollenwechsels gewählt. Drei Boten in schäbigen Anzügen mit Fliegermütze und Stahlhelm, das Haupt des einen krönt der halbe Rumpf einer Plastikpuppe. Ein schaurig-lächerlicher Triumph des Sieges: die verstümmelten Leiber der Toten. Dumm und hilflos grinsen sie angesichts der besinnungslos rasenden Weiber. Die Inszenierung springt zwischen Klage und Farce hin und her. Dazu unaufhörlich orientalische Volksmusik, mal wie Filmmusik unter die Szene gelegt, mal tanzt man zu ihrem Rhythmus. Das Wimmern der Frauen wird dabei zum Ritual: Die Beherrschung der schmerzzuckenden Körper in der choreographischen Form wirkt wenigstens für einen Moment wie ein Schutzschild gegen die Gewalt von außen, die den Körper zu verletzen droht, und gegen den Schmerz, der ihn von innen verschlingen will.

Abgesehen von ein paar verschenkten Szenen, etwa dem Auftritt der delirierenden Kassandra, der zur allzu simplen Körperbeschmierungssymbolik gerät, gelang dem Jubiläumsensemble mit dieser Inszenierung in wundersamer Weise gerade das, was doch das allerschwerste ist und selten nur das Theater schafft: das Ganze ins Zeitlose zu entrücken und es zugleich wie eine Sonde in die eigene Zeit hineinzuführen.

Noch heute und morgen, jeweils 20 Uhr im Theater am Halleschen Ufer, Hallesches Ufer 32

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