: Auf ganz und gar verkehrte Fragen eine Antwort versuchen
■ betr.: „Keineswegs aburteilen“ taz vom 19.3.94, „Das war ihr Le ben“ („Der Fall Christa Wolf“), taz vom 22.3.94
[...] Mehr als über Christa Wolfs Verhältnis zur Macht verraten Film und taz-Interview vom 19.3. über den subtilen Umgang von westdeutschen Intellektuellen mit der Macht. Die Autorin des Films, Beate Pinkerneil, will „keineswegs aburteilen“. Um sich gewissenhaft jeglicher Meinungsäußerung zu enthalten, wurden selbst die Interviewfragen aus dem Film herausgeschnitten. In schneller Folge reihen sich fragmentarische Antworten unterschiedlicher InterviewpartnerInnen aneinander, was wohl den Eindruck von Pluralität erzeugen soll. Die aus jeglichem Kontext gerissenen Antwortfetzen suggerieren eine „wertfreie“ Sammlung solcher Intellektuellen- Meinungen, die für sich selbst sprechen können. Das Erkenntnisinteresse der Filmemacherin braucht ebensowenig mitdiskutiert zu werden, wie auch über die Erkenntnismittel nur spekuliert werden kann. Auf dem Hintergrund „objektiven Datenmaterials“ geht es schließlich um den Erkenntnisgegenstand: Christa Wolf.
Fragen, die im günstigsten Fall Rechtfertigungen produzieren, liefern jedoch in erster Linie Aufschluß über die Fragenden selbst, nicht über die Befragten. „Ist Christa Wolf ein Musterfall verführten Denkens?“ Ehemalige Freunde der Proträtierten bemühen sich zum Teil um redliche Antworten auf solcherart unredliche Fragen. Was da vor sich geht, haben nur wenige so deutlich zur Sprache gebracht wie Christa Wolf selber. In „Kassandra“ (1983) schreibt sie: „Ich war, von wem, das wurde nicht gesagt, zur Schiedsrichterin bestellt: Welches von den beiden Himmelsgestirnen heller strahlen könne. Etwas an diesem Wettkampf war verkehrt, doch was, das fand ich nicht heraus, wie ich mich auch anstrengen mochte. Bis ich mutlos und beklommen sagte, es wisse und sehe doch ein jeder, die Sonne sei es, die am hellsten strahle.“ (S. 102) Eine weise Frau deutet Kassandras Traum folgendermaßen: „Das wichtigste an deinem Traum, Kassandra, war dein Bemühen, auf eine ganz und gar verkehrte Frage doch eine Antwort zu versuchen. Daran sollst du dich, wenn es dazu kommt, erinnern.“ (S. 103)
Leider erinnern sich selbst Interviewpartner wie Schorlemmer, dessen „Verehrung“ für Christa Wolf und ihr Werk ungebrochen ist, in entscheidenden Momenten nicht an diesen Traum, der für sie zur Wirklichkeit wird. Da reihen sich platte Psychologisierungen über die SED als Vater- und Religionsersatz an Prophezeiungen darüber, daß Christa Wolf nun keine bedeutsamen Bücher mehr schreiben wird.
Die Erklärungsmuster sind verblüffend: Weil sie „nicht genug Trägheit des Herzens“ aufbringen kann, fehle ihr „der kalte Blick“ und die notwendige „Gleichgültigkeit“ – so Heiner Müller –, um eine gute Schriftstellerin zu sein. Und weil sie nur für die eine politische Richtung stritt, hält Günter Grass sie nicht für eine politische Autorin.
Was hängenbleibt: Verwerflich der Mensch, der an etwas glaubt; verwerflich insbesondere eine Intellektuelle, die Utopien verfolgt und in den gesellschaftlichen Verhältnissen für diese Utopien eintritt. Das Demontage-Bedürfnis, das derartige Lebensentwürfe vor allem bei westdeutschen Intellektuellen auslöst, wird nur auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Spaltung zwischen Denken und Handeln, Intelligenz und Macht verständlich. Wenn Beate Pinkerneil „völlig wertfrei“ befindet, Christa Wolf sei „noch nicht so weit, das Thema „Die Intellektuellen und die Macht“ zu reflektieren“, disqualifiziert der kolonisierende Gestus einer solchen Sprechweise in erster Linie ihr eigenes Reflexionsvermögen zu diesem Thema. Anita Blastik, Mechthild Gomolla, Matthias Barkhausen, Bielefeld
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