: Toni Tureks Kraft und Herrlichkeit
■ Im Reich des Fußballgottes: mit Friedrich Christian Delius zurück im Juli 1954
Das Herz von Leuten, die nahe einer Kirche wohnen, deren Glocken allsonntäglich außer Rand und Band geraten, hat Friedrich Christian Delius schon nach wenigen Sätzen gewonnen. Mit einer ingrimmigen Leidenschaft, die nur jahrelanger Glockenfolter entspringen kann, beschreibt er die Kakophonie, die den elfjährigen Protagonisten seiner Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ aus den Träumen reißt. Der kirchliche Klangterror hämmert dem Knaben schon im Halbschlaf ins Hirn, wem dieser wie jeder andere Sonntag zu widmen ist: dem Vater, und zwar dem Vater in seiner doppelten Inkarnation. Da ist hoch droben der himmlische Vater, aber da ist auch der irdische und leibliche, der Pfarrer des hessischen Dörfchens Wehrda, der auf der einen Seite im Namen des Vaters spricht, auf der anderen Seite selbst der Vater ist und – blasphemischerweise, wie es den Knaben dünkt – sogar auf der Anrede „Vater“ besteht. Das vertraulichere „Papi“ oder „Vati“ ist strikt untersagt. Im Hause bildet der Pfarrer das eloquente Gegenstück zur schweigsam sorgenden Mutter, der verschüchterte Sohn indes reagiert auf die Wortgewalt seines Erzeugers mit sprachlicher Verweigerung: er stottert, wenn der Vater oder andere Erwachsene, die ihn an dessen Autorität gemahnen, das Wort an ihn richten.
Die väterliche Zweifaltigkeit hat den Sonntag mit Geboten und Verboten gespickt, die ihn zu einem schwierigen Hürdenlauf werden lassen. Selbst der Blick ins Lateinbuch ist am Tag des Herrn untersagt. Oberstes Gebot ist die Ruhe, besonders in der „Umgebung der amtlichen Kirchensprache“, dem Pfarrershaus, wo man sich das Mittagessen noch durch Singen verdienen muß.
Erlösung durch ein Fußballwunder
Heute ist jedoch ein ganz besonderer Sonntag. Man schreibt den 4. Juli 1954, den Tag des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft, an dem sich in Bern die Deutschen und die übermächtig scheinenden Ungarn gegenüberstehen. Der Junge hat die Erlaubnis erwirkt, die Radioübertragung anzuhören, was nicht nur diesen Sonntag aus allen anderen heraushebt, sondern auch diese lesenswerte Erzählung aus der Unzahl von Schilderungen beengter Kindheiten in hochmoralischen und versteinerten Pfarrer-, Lehrer- oder Richterfamilien. Der schwierige Versuch, die Erlebniswelt des Kindes darzustellen, ohne sie allzu sehr durch die analytische Brille des Erwachsenen zu betrachten, kulminiert hier in der legendären Reportage von Herbert Zimmermann.
Das Erschrecken des Pfarrers- beziehungsweise Gottessohnes über die unverhohlen religiöse Dimension, die die Reporterstimme aus dem fernen Bern dem Fußballspiel verleiht, über die Vermessenheit, die darin liegt, den Torwart Toni Turek im selben Atemzug als „Teufelskerl“ und „Fußballgott“ zu bezeichnen, wirkt ebenso glaubwürdig wie die Entdeckung eines neuen Wir-Gefühls, das nicht in der Erbsünde und der Gleichheit vor Gott wurzelt. Es entsteht eine geheime Komplizenschaft zwischen dem metaphernwütigen Berichterstatter, seinen gespannten Hörern und dem Elfjährigen, der schon zuvor beim Tischgebet „die Kraft und die Herrlichkeit“ insgeheim auf die deutschen Fußballer bezogen hatte.
Während der 3:2-Sieg der deutschen Mannschaft gegen die Ungarn überall im Land dafür sorgt, daß die Nasen wieder ein Stück höher getragen werden als in den neun Jahren zuvor, erhebt sich auch der Junge in der Identifikation mit den Spielern über seinen beschwerlichen, vom Stottern und der lästigen Schuppenflechte dominierten Alltag. Ohne einmal ins Stocken zu geraten, teilt er dem beiläufig hereinschauenden Vater zur Halbzeit den Spielstand mit – „Unentschieden steht es. Unentschieden. 2:2“ – und wünscht, daß dieser möglichst schnell den Raum verlassen möge, damit er nicht hört, welch gottlosem Vergnügen sich sein Sprößling hingibt, der einem „Fußballwunder“ lauscht: „Liebrich, Liebrich, wenn wir dich nicht hätten!“
Nachdem Herbert Zimmermann ein ums andere Mal sein hysterisches „Aus! Aus! Aus! Aus!“ ins Mikrofon gebrüllt hat, rennt der Junge auf den Dorfplatz, um das soeben erlebte Unfaßbare mit Gleichgesinnten zu bejubeln. Er hat eine Ahnung davon bekommen, daß die Welt mehr zu bieten hat, als man es sich im Pfarrhaus träumen läßt, und er fühlt sich, „ohne es zu begreifen“, als „der glücklichste von allen, glücklicher vielleicht als Werner Liebrich und Fritz Walter“. Und denen hat der Reporter immerhin gerade bescheinigt, daß sie sich gebärden, „als ob sie ein Schloß gewonnen hätten“. Matti Lieske
Friedrich Christian Delius: „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“. Rowohlt Verlag, 1994, 128 Seiten, geb., 25 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen