: Ein leiser, fast vergessener 8. Mai
■ Zum 49. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland ehrte die russische Armee zum letzten Mal ihre Gefallenen in Berlin
Die fünfköpfige Gruppe westdeutscher Schüler rätselte lange, was es denn nun mit dem Aufmarsch russischer Truppen am Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten auf sich habe. Schließlich raffte sich ein Mädchen auf und fragte einen Passanten: „Sagen Sie mal, was war denn am 8. Mai eigentlich los?“ Weitgehend unbemerkt von der Berliner Bevölkerung feierten gestern die russischen Truppen zum letzten Mal vor ihrem endgültigen Abzug Ende August die Kapitulation Nazi-Deutschlands vor 49 Jahren.
Während am Ostberliner Mahnmal in Treptow die PDS, der Bund der Antifaschisten und das Friedensforum europäischer Katholiken rund 8.000 Menschen zu einer Kundgebung mobilisierten, blieb das militärische Zeremoniell in der Nähe des Reichstages, auf dem einst 1945 die sowjetischen Truppen die rote Fahne gehißt hatten, den vorbeiflanierenden Touristen vorbehalten.
11.40 Uhr: Unter einem strahlendblauen Himmel entsteigt auf der Straße des 17. Juni die russische Prominenz der Wagenkolonne. Darunter in grauer Uniform und goldglänzenden Schulterklappen der Oberkommandierende der Westgruppe der russischen Streitkräfte (WGT), Matwej Burlakow. Der Troß um Burlakow – dicht neben ihm als Zeichen der neuen Zeit stets ein Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche – hatte kurz zuvor im Treptower Park an der überdimensionalen Statue des Rotarmisten, der mit dem linken Arm ein Mädchen trägt und mit der rechten Hand ein Schwert über ein zerschmettertes Hakenkreuz hält, Kränze für die Gefallenen niedergelegt.
Auch auf anderen sowjetischen Soldatenfriedhöfen in Brandenburg wurde an diesem Sonntag von den rund 35.000 russischen Soldaten und Familienangehörigen des Siegs über den Hitler-Faschismus gedacht.
11.43 Uhr: Unter den Klängen einer russischen Militärkapelle marschiert eine vierzehn Mann starke Ehrengarde junger Soldaten im Stechschritt auf das Ehrenmal zu und legt Kränze ab. Burlakow, seine Begleiter und die Offiziere der Amerikaner, Briten, Franzosen sowie der Bundeswehr salutieren; die Kapelle spielt die russische und deutsche Nationalhymne.
Stramm marschiert auch die Ehrengarde an dem WGT-Chef und der Prominenz vorbei, danach gehört das Ehrenmal für einen kurzen, letzten Augenblick noch einmal den russischen Zivilisten. Wie in Moskau und anderswo legen sie an diesem Tag rote Nelken nieder, fotografieren sich gegenseitig vor zwei Soldaten der Ehrenwache. Ein Offizier, der mit seinem Neugeborenen in den Armen über den Vorplatz läuft, entzückt die Touristen, Kameras klicken. Punkt 12 Uhr zieht die Ehrengarde samt Kapelle mit festem Stiefeltritt ab. Ein Mann klatscht vorsichtig. Kurz darauf sind es ein Dutzend der rund 500 Schaulustigen, die es ihm gleichtun.
12.05 Uhr: Die klapprigen, aber auf Hochglanz polierten Busse mit den Offizieren, Soldaten und Familienangehörigen fahren ab. Ein Team der „Télévision Française à Berlin“ sucht nach einem passenden Schluß für ihren Beitrag. Der Kameramann winkt und winkt. In den Bussen überraschte Gesichter. Und dann, ganz plötzlich, winken doch einige, ganz zaghaft. Severin Weiland
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