Short Stories from America: Wohlkontrollierte Schuldgefühle
■ Die Kriterien der Anti-Raucher-Kampagnen gelten leider nicht für Polizisten
Nach Davis in Kalifornien sollten Sie nun wirklich nicht fahren. Das schreibe ich zur Vorbeugung, denn das Ende meines Semesters an der New Yorker Universität erinnert mich an die Sommerferien, und Davis ist eine reizende kleine Stadt im kalifornischen Weinanbaugebiet, die sich wohl jeder bei einer Reise in die USA und an ihre Westküste aufs Programm schreiben würde. Ich kann meinen deutschen Lesern davon nur abraten, denn dort darf man nicht rauchen. Das heißt nicht, daß Raucher in die miesesten Ecken der Restaurants verbannt werden, oder daß sie erst dann eine Zigarette anzünden dürfen, wenn sie Züge, Busse, Taxis und öffentliche Gebäude verlassen haben. Das ist in den Vereinigten Staaten überall der Brauch, und wenn Sie deshalb Ihre D-Mark vielleicht lieber für einen Trip nach Istanbul aufsparen sollten, wo man ja die interessantesten Dinge zu rauchen kriegen soll, so ist dies doch nicht die entscheidende Besonderheit von Davis. Was Davis aus der Masse heraushebt, ist das absolute Rauchverbot, auch im Freien. Für einen einzigen Zug muß man nicht nur nach draußen gehen, sondern im Wortsinn die Stadt verlassen. Das kann die Reisekosten ganz schön in die Höhe treiben.
Davis in Kalifornien steht damit keineswegs allein. Aspen in Colorado, eines der größten amerikanischen Zentren für Wintersport und Bergsteigen, ist zig amerikanischen Städten mit dem Rauchverbot für alle Restaurants vorangegangen. Selbst die unbequemen Raucherecken sind verboten. San José und San Francisco verbieten das Rauchen in allen Innenräumen, einschließlich Büros, Fabriken, Restaurants und Läden, was den hübschesten Einkaufsbummel beeinträchtigt. Das gleiche gilt im Staat Vermont, dessen grüne Hügel zu den schönsten Sommerurlauben einladen; auch der Staat Washington, mit riesigen Wäldern und herrlichen Aussichten auf den Pazifik, verbietet den schändlichen Akt in allen öffentlichen und privaten Büros, außer in „Sonderräumen“; der Staat Maryland verbietet das Rauchen in umschlossenen öffentlichen Räumen einschließlich Einkaufszentren, Restaurants, Bars, Läden und an Arbeitsplätzen. Und in vielen amerikanischen Privatbetrieben ist es außerhalb eventuell eingerichteter „Rauchkämmerchen“ auch nicht mehr erlaubt.
Der Grund für das Rauchverbot ist: Amerika glaubt an Qualitätsüberwachung. Die Regierung soll die Produkte kontrollieren, damit wir wissen, was wir unseren Innereien antun. Deshalb hat zum Beispiel die Food and Drug Administration ihre Richtlinien für Etiketten umfassender und strenger gestaltet. Wenn ein Amerikaner eine Fertigmahlzeit oder einen Beutel Kartoffelchips einpfeift, muß er auch lesen, was er an Chemikalien zu sich nimmt und kann sich schuldig fühlen. In Amerika ist ein Vergnügen nur mit Schuldgefühlen komplett. Wer Tabak will, muß rausgehen (oder gleich ganz die Stadt verlassen), mit Gewissensbissen beladen. Wir sind ein protestantisches Land.
Amerika nimmt Schuld sehr ernst. Ich bin da nicht anders. Aber ich glaube, es geht noch nicht weit genug. Zum Beispiel erstreckt sich die Qualitätskontrolle noch nicht auf die Polizisten.
Laut dem neuen Bericht der Mollen Commission über die Polizeikorruption in New York stehlen Polizisten Drogen und Bargeld, verkaufen Drogen, verprügeln Dealer, die nicht mit ihnen zusammmenarbeiten wollen und – dies nun von der Titelseite der New York Times – lügen vor Gericht. Dennoch wollen sowohl New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani als auch Präsident Clinton mehr Polizisten und dazu auch mehr Gefängnisse, was wiederum mehr Polizisten erforderlich macht.
Das ist gegen das Gesetz über Qualitätskontrolle: Wenn Polizisten sich an Drogen, Geld und Gewalt laben wollen, dann müßten sie – gemeinsam mit ihren Gewissensbissen – die Stadt verlassen. Aber das tun sie nicht, und anders als bei den Rauchern habe ich auch noch nie gehört, daß es einer aufgegeben hätte.
Charles Silberman, der Autor eines Buches über Gewaltverbrechen und Strafgerichtsbarkeit, weist darauf hin, daß die Zahl der Polizisten in einer Stadt keinesfalls mit der Zahl der begangenen Verbrechen oder dem Prozentsatz der gelösten Fälle korrespondiert. Er betont weiterhin, die Verschärfung der Strafmaße werde die Zahl der Verbrechen nicht senken.
Harper's Magazin berichtet, daß in Staaten ohne Todesstrafe nur halb so viele Morde begangen werden wie in Staaten mit der Todesstrafe. Aber Giuliani will mehr Polizisten für New York, und Clinton genehmigte die Praxis „Raus beim dritten Schlag“. Wird sie vom Kongreß verabschiedet, dann würde das ein obligatorisches Lebenslänglich für jeden bedeuten, der zum drittenmal eines Gewaltverbrechens überführt wird. Silberman weist darauf hin, daß der Hang zur Gewalt nach Erreichen des etwa fünfundzwanzigsten Lebensjahrs schnell abnimmt und nach dem dreißigsten noch schneller, so daß sich die Gefängnisse mit alternden Männern füllen würden, bei denen Gewalttätigkeit immer unwahrscheinlicher wird. Die New Yorker Polizeibehörde ist in den letzten fünfzehn Jahren mehrfach verstärkt worden, aber die Zahl der Verbrechen nimmt zu (oder ab), ohne daß sich ein Zusammenhang mit diesen Verstärkungen feststellen ließe. Für jeweils fünf US-Soldaten, die in den letzten beiden Jahren in Somalia ums Leben kamen, wurden in New York sechs Taxifahrer ermordet. Die Folgen von Clintons Politik der Strafverfolgung zeigen sich in Little Rock, Arkansas: Die Zahl der Morde pro tausend Einwohner ist ebenso hoch wie in New York. Aber die Polizei wird nicht etwa wie die Raucher in die Außenbezirke verbannt, sondern erhält auch noch eine Sonderbehandlung. In Youngstown in Ohio bekommen sogar Polizeihunde, wenn sie in Ausübung ihres Dienstes erschossen wurden, eine Traueranzeige in der Zeitung und eine Beerdigung mit vollem Zeremoniell.
Als Amerikanerin beleidigt es mich, daß die Regierung für die Polizeiarbeit weder Qualitätskontrolle noch Schuldgefühle übrig hat. In einer Hinsicht könnte daraus immerhin Gutes erwachsen. Mehr Polizisten würden mehr Verhaftungen bedeuten, das würde mehr Verurteilungen nach sich ziehen und damit auch mehr dritte Verurteilungen, und daraus wiederum ergäben sich mehr lebenslängliche Haftstrafen. Also würden immer mehr Menschen ihre zweite Lebenshälfte im Gefängnis verbringen. Während die amerikanische Wirtschaft also den Verlust von Arbeitsplätzen in der Tabakindustrie zu beklagen hat, ergeben sich vielleicht neue Arbeitsmöglichkeiten in der Altenpflege. Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen von Meino Büning
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen