piwik no script img

Die Amis guckten aus dem Fenster

■ Er hörte, kam, warf Steine auf russische Panzer - und wurde fotografiert: nach 41 Jahren hat sich Arno Heller "sein" Foto besorgt und erinnert sich an den Bauarbeiteraufstand vom 17.Juni 1953. Ein...

Potsdamer Platz, 17.Juni 1953: Zwei junge Männer greifen heranrollende russische Panzer mit Pflastersteinen an. Ein weltbekanntes Foto zeigt sie von hinten, der eine ist noch im Sprung, nachdem er einen Stein geworfen hat. Sein Name ist Arno Heller, damals studierte er Musik in West-Berlin, heute lebt er als Rentner in Buckow.

taz: Wie erlebten Sie den 17. Juni 1953?

Arno Heller: Ich studierte am Städtischen Konservatorium am Reichpietschufer Musik. Um ungefähr 9 Uhr hatte ich Klavierunterricht. Als ich danach in der Mensa saß, kamen Studenten herein und erzählten, am Potsdamer Platz sei was los. Der Potsdamer Platz war ja nicht weit entfernt, also lief ich hin, um mir die Sache anzuschauen. Der Potsdamer Platz war ja ohnehin ein neuralgischer Ort – die Grenze zwischen Ost- und Westsektor. Als ich ankam, war dort eine riesige Menschenmenge versammelt: Maurer in ihren Arbeitsklamotten, Leute mit Transparenten und Stahlwerker aus Hennigsdorf, die dort um 6 Uhr losgelaufen und zu Fuß nach Berlin gekommen waren.

Die Leute umringten die russischen Panzer und einige warfen mit Steinen. Anfangs guckten die Soldaten ja noch oben aus ihren Luken. Da lohnte es sich noch, Steine zu werfen. Später machten sie die Luken zu und schossen mit MGs in die Luft. Daraufhin rannten die meisten weg, Richtung Leipziger Straße. Auf dem Foto sieht man hinten ja noch ein paar von den Leuten, links, wo damals noch Wertheim stand. Rechts, im ehemaligen Reichsluftfahrtministerium, ist ja heute diese Verhökeranstalt drin.

Wie war das, als Sie plötzlich Panzern gegenüberstanden, das ist doch eine gewaltige Bedrohung?

Ich dachte, die schießen nicht auf Menschen. Aber sie fuhren dann doch auf die Leute zu. Wer weiterleben wollte, mußte zur Seite springen. Die hätten nicht für Deutsche gebremst! Wir waren doch ein geächtetes Volk. Wir warfen dann mit Steinen, weil wir sauer waren: So dicht an der Sektorengrenze russische Panzer, die Menschen bedrohten. Es war eine Wutreaktion, weil man an die Brüder ja nicht rankam. Wir hatten ja keine Waffen. Sicher war es sinnlos, einen Panzer mit Steinen zu bewerfen, aber wir hofften, vielleicht einen ins Rohr zu treffen. Für den Fall, daß die Panzer feuerten, wäre das Geschoß im Rohr explodiert.

Wo hatten Sie denn auf die schnelle die Steine her?

Ein dritter Panzer, den man auf dem Foto nicht mehr sieht, weil er hinter uns war, war vorher über den Gehweg gefahren und hatte mit den Ketten den Bürgersteig aufgerissen. Er lieferte uns damit die losen Steine. Der Panzer Nr. 93 fuhr später auch an uns vorbei, drehte und riß dabei die Straßenbahnschienen raus.

Hatten Sie Kontakt mit anderen Demonstranten, wußten sie zum Beispiel, wer der Mann neben Ihnen war?

Den Jungen kannte ich nicht. Das war Zufall – wir waren wohl die frechsten, weil wir trotz der Bedrohung noch blieben. Direkten Kontakt zu den anderen hatte ich nicht. Es waren hauptsächlich Ostdeutsche. Die Leute liefen kreuz und quer, es war wie eine brodelnde Masse. Aber man verstand sich auch so: Wir waren ja noch ein Volk, hatten die gleichen Gedanken, den gleichen Krieg erlebt und waren gerade aus den gleichen Bunkern gekrochen. Ich wußte aus der Zeitung und durch einen Bekannten, der eine Baufirma hatte, die in der Stalinallee mitarbeitete, von den Problemen der Bauarbeiter. Aber ich wußte auch, daß die sich wehrten, die Bauarbeiten sabotierten, indem sie einfach Wände einzogen, an Stellen, die dafür nicht vorgesehen waren. Oder plötzlich verschwanden Bauzeichnungen, der Beton fror ein usw. Aus Gesprächen mit Bauarbeitern wußte ich, daß denen der Kaffee hochkam, bei dem, was sie verdienten.

War der Aufstand Ihrer Meinung nach schon länger abzusehen?

Ja, auf jeden Fall. Die Situation hatte sich länger aufgebaut. Es knisterte im Gebälk. Die SED baute mehr und mehr ihre Macht auf und setzte sie hart durch. Namen wie Hilde Benjamin sprechen da für sich. Durch den Aufstand entlud sich die Spannung, und die SED konnte ihre Macht nur mit Hilfe von Panzern aufrechterhalten.

Wie reagierten die Amerikaner oder die Westberliner Polizei?

Alle warteten auf die Amerikaner – aber die waren nicht zu sehen. Die haben wohl nur aus dem Fenster geguckt. Die Berliner Polizei beobachtete das Ganze, aber die hatten ja auch nur kleine Pistölchen. Ich denke, das war alles im Vorfeld abgeklärt. Die Rote Armee hatte sich rückversichert, und die Amerikaner hatten ein großes Maul hinterher.

Welche Hoffnungen verbanden Sie mit dem Aufstand?

Wir wollten die Russen abschütteln, ihnen ihre Selbstherrlichkeit nehmen und ihre Vasallen loswerden. Es war für uns ein Versuch, die bestehenden Verhältnisse zu verändern.

Wie ging es an diesem Tag weiter?

Ab 16 Uhr hatte ich im Konservatorium wieder eine Vorlesung. Die Panzer zogen sich ohnehin zurück, um auch aus dem Gesichtskreis der westlichen Reporter zu verschwinden. Es war ja alles voller Korrespondenten.

Haben Sie am Konservatorium mit den anderen diskutiert? Fand überhaupt an einem solchen Tag ein normaler Ablauf des Alltags statt?

Ja, man sprach über die Ereignisse. Aber eher in der Mensa. Die Studenten waren noch nicht so politisch wie später mit Dutschke. Ich habe meine Aktion für mich behalten, es war eher eine emotionale Sache. Ansonsten ging alles normal weiter. Die Ereignisse wurden eher nebenbei wahrgenommen. Wer Zeit hatte, ging hin. Es war doch hauptsächlich eine Sache der Ostberliner. Ich denke, die Trennung der Stadt war eigentlich im Kopf schon vollzogen. Auch wenn wir uns wünschten, es an diesem Tag doch noch ändern zu können. Osten, das hieß „gefährlich“, es war der Ort, wo man unangenehme Dinge erlebte, wo man einfach verhaftet werden und verschwinden konnte. Westen, das hieß „gut“ und war wesentlich verheißungsvoller. Diese Meinung wurde auch durch die damalige Presse stark unterstützt.

Wie war die Stimmung der Menschen in dieser Zeit?

Es war eine allgemeine Aufbruchstimmung. Jede neu gebaute Wohnung wurde gefeiert. Die Zeitungen waren voll mit Wohnungssuchenden, wie heute. Hauptsächlich wurden einzelne Zimmer vermietet. Überall wurden Steine geklopft. Man hatte das Gefühl, es geht aufwärts. Der 17. Juni wirkte da wie ein Rückschlag. Damit hatte man so nicht gerechnet. Vor allem das Vertrauen in die Amerikaner war gebrochen. Es gab damals einen Witz: Fragt ein Amerikaner einen Taxifahrer: „Wie fühlen Sie sich als Berliner?“ Sagt der: „Wie verkooft, nur noch nich jeliefert!“ Auch als Kennedy später sagte: „Ich bin ein Berliner“, haben viele gedacht, „Der olle Knallkopp...“ Und später wußten viele auch nicht mehr, warum sie damals vorm Rathaus begeistert mitgebrüllt hatten.

Wie war Ihre persönliche Situation damals?

Ursprünglich kam ich aus Rangsdorf. Mein Vater hatte da eine kleine Werkstatt und reparierte Büromaschinen. Schreibmaschinen, die wir aus ausgebrannten Häusern geholt hatten, wurden dort wieder flottgemacht. Wir hatten hauptsächlich russische Kundschaft. Ich machte meine Lehre in Teltow und ging einmal in der Woche nach West-Berlin zur Berufsschule. Mit mir waren es drei Angestellte. Das brachte meinem Vater den Vorwurf ein, ein Bourgeois zu sein. Außerdem sei er ein Grundbesitzer, weil er Haus und Garten hatte. Er solle in die SED eintreten oder den Betrieb verkleinern. Daraufhin ging ich ganz nach Berlin und begann mit dem Musikstudium. Ich hatte zwar kein Abitur, aber am Konservatorium ging es auch so. Ich bekam ein Stipendium von 75 Mark und mußte 25 Mark davon für ein Zimmer zur Untermiete bezahlen. Als ich mir bei einer Ost-Firma einen Job suchen wollte, hieß es, du kommst doch nur, um Teile zu klauen. Also ging ich zur studentischen Arbeitsvermittlung. Die hatte damals den Werbespruch „Ruf an – Studenten machen alles“. Nach dem Unterricht fuhr ich dann Möbel oder Schokolade aus oder klopfte Teppiche. Stundenlohn war immer ungefähr 1,30 Mark.

Warum haben Sie nicht in Ost- Berlin studiert?

Da bin ich ja zuerst auch hin, an die Hochschule für Musik in der Mohrenstraße. Aber dort standen zwei Volkpolizisten mit MGs im Treppenhaus. Das fand ich so abschreckend, daß ich lieber wieder gegangen bin.

Wie haben Sie das Ende des Krieges erlebt?

Ich kam mit 14 Jahren zum Volkssturm. Mit einer Panzerfaust sollte ich Berlin verteidigen. Meine Schulkameraden wurden zum Teil erschossen. Ich hatte wohl Glück und wurde von den Amerikanern nach Hause geschickt. Die haben mich gar nicht für voll genommen. Immerhin habe ich nie einen Schuß abgegeben. Mein Vater hat nachher meine Klamotten in den Ofen gesteckt, bevor die Russen kamen. Die Jacke, die ich auf dem Foto anhabe, ist eine amerikanische Uniformjacke. Die hatte ich vom Mann meiner Schwester. Sie war nach dem Krieg „Keksbraut“ geworden, wie wir damals sagten. Das heißt, sie hatte einen Amerikaner geheiratet.

Hat der 17. Juni heute noch eine Bedeutung für Sie? Wie haben die Ereignisse Ihr politisches Denken geprägt?

Nun, es war eine Zeit, in der ich begann, politisches Denken überhaupt zu entwickeln. Wir waren ja alle noch voller Scham und Schuldgefühl über die Geschehnisse des Krieges und des Holocaust. Wie sagt man – das Sein bestimmt das Bewußtsein. Ist von Marx, glaube ich. Nach dem, was um mich herum passierte, habe ich meine politische Meinung entwickelt.

Wenn ich heute an den 17.Juni denke, denke ich auch an die Leute aus dem Osten, die damals scharenweise in den Westen kamen, mit dünnen Jacken, schlechtem Schuhwerk, hungrig – und an die die Vopos dazwischen, die ab und zu einen niederknüppelten. Ich denke auch an die Wut der Leute damals, als sie die Vopos aus dem brennenden Columbushaus holten und sie verprügelten. Nur die West-Polizei konnte dort verhindern, daß sie totgeschlagen wurden. Aber ein Bild hat mein Bewußtsein besonders geprägt: die Panzer, die gegen die wehrlosen, unbewaffneten Leute eingesetzt wurden. Interview: Martina Landmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen