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SPD feiert das Scharpingwunder von Halle

■ Wer hätte das gedacht: Rudolf Scharping zeigte sich kämpferisch. Wohl von Helmut Kohl hat sich der sozialdemokratische Kanzlerkandidat abgeguckt, wie man Parteitagsdelegierte auf eine...

Wer hätte das gedacht: Rudolf Scharping zeigte sich kämpferisch. Wohl von Helmut Kohl hat sich der sozialdemokratische Kanzlerkandidat abgeguckt, wie man Parteitagsdelegierte auf eine kämpferische Linie bringt.

SPD feiert das Scharpingwunder von Halle

Die Worte des Parteivorsitzenden für Johannes Rau verlieren sich im Beifall, der sofort in Standing ovations übergeht. Doch die Delegierten wissen, daß es heute darauf nicht ankommt. Beim ersten Wink des unterlegenen sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten sitzt die Versammlung in der Eissporthalle wieder, denn später erst, wenn Rudolf Scharping seine Rede beendet hat, wird der Beifall des Tages fällig sein. Daß die SPD für den letzten Altvorderen in der Parteispitze immer ein Herz hat, ist bekannt. Was jetzt in die Öffentlichkeit getragen werden muß, ist das Verhältnis der angeschlagenen SPD zu ihrem angeschlagenen Vorsitzenden. Daran, das wissen hier alle, wird der Wahlparteitag der Sozialdemokraten gemessen werden.

Auf den vorangegangenen Parteitagen hatte es zwischen Delegierten und dem Vorsitzenden kaum gefunkt. Doch Scharping ist wie ausgewechselt. Schon in den ersten Minuten trifft er den Ton, den die SPD vermißt hat und nun erleichtert und begeistert beklatscht.

Natürlich prangt das Vordringliche an der Stirnwand des Saales: „Der Wechsel. Eine Chance für Deutschland“. Und Scharping legt los und attackiert die Regierung Kohl an den Themen, die ausnahmslos alle Sozialdemokraten so empören wie den Vorsitzenden selbst. Zwölf Jahre Kohl, die statt der versprochenen geistig-moralischen Wende einen „Rückschritt zum Schaden der Menschen“ und anstelle „sozialer Verantwortung platten Egoismus“ gebracht hätten, diese Grundmuster gibt Scharping vor. Die Kinder, die Frauen, die Familien, die Älteren, davon müsse die SPD sprechen. Nach diesem Überblick über die klassische und erweiterte Klientel, um die sich die SPD mühen will und wird, gewinnt Scharping die Delegierten mit starken Worten zu seinen Widersachern: Kanzler Kohl beschimpft er als „Lügner“ und „Heuchler“, die FDP als „elitär“ und CDU-Fraktionschef Schäuble als „Reaktionär“. Auf Schäuble hat es Scharping besonders abgesehen. „Vollkaskomentalität“ unterstelle Schäuble, aber haben die sieben Million Menschen an der unteren Einkommensgrenze etwa eine Vollkaskomentalität? Die Frage findet den begeisterten Beifall der Delegierten.

Scharping spricht bewegt, mitreißend und selbstironisch. Der Saal ist erheitert, als Scharping sein dröges Image anspricht: „Ich gelte als wenig flexibel, aber das hat vielleicht was mit Rückgrat zu tun.“ Denn in Halle steht einer vor den Delegierten, der sich mit seiner ganzen Person einsetzen will — und folglich dasselbe von seiner Partei verlangt. Nur eine Wendung ist nötig, um die hochgekochte Koalitionsdebatte der vergangenen Tage zu erledigen. „Wir können nicht einen Teil unserer Politik an irgendeine andere Partei abtreten. Und wir sind nicht in einem akademischen Seminar, wir sind im Wahlkampf. Da ist jede andere Partei Konkurrenz.“ Von den Diskussionen der Vortage will er nichts wissen. „Schluß jetzt mit den Debatten über Koalitionen, anfangen mit der Reformdebatte!“ — die Delegierten antworten mit riesigem Beifall.

Und danach geht es um Fehler, auch um eigene — wie der nach der Präsidentenwahl. Selbstbewußt tritt Scharping auf und wendet die Fehlleistung ins Kämpferische: „Wer will im Ernst die zornige Reaktion bei der Bundespräsidentenwahl vergleichen mit der Latte von Fehlern der Bundesregierung?“

Dann kommt die Einschwörung. Oskar Lafontaine klatscht mit aller Kraft in die Hände, als der sozialdemokratische Kanzlerkandidat klarstellt: „Wer mich umwerfen will, der will der SPD die Chancen kaputtmachen.“ Folgt der Dank an Rau — und schließlich das Thema Gerhard Schröder, der zu Wochenbeginn mit einem Interview im Spiegel für Ärger gesorgt hat. Zu den erfreulichen Ereignissen des Wahlkampfs rechnet Scharping das niedersächsische Wahlergebnis. „Lieber Gerhard“, wendet sich Scharping dann an seinen ehemaligen Mitbewerber um das Vorsitzendenamt, „die ganze Partei hat versucht, das jedenfalls nicht zu verhindern.“ Darüber schmunzelt die Versammlung und stimmt der milden Bemerkung natürlich zu: „Ich wäre ganz dankbar, wenn man unmittelbar miteinander reden würde.“ Kaum verwunderlich, daß der niedersächsische Ministerpräsident die obligatorische Gratulation am Ende der Rede bemerkenswert schnell erledigt.

Es ist kein Frage mehr, daß Scharping seinen wichtigsten Part auf dem Parteitag mit Bravour erledigt hat, als sich der letzte Teil seiner Rede zu einer mittleren Hängepartie entwickelt. Brav kommen Parteichef und Parteitag mit Rede und Beifall immer wieder auf das Programm, den „reformerischen Dreiklang“ von sozialer Gerechtigkeit, Abbau der Arbeitslosigkeit und ökologischer Modernisierung, zurück, absolvieren die Zukunft („vor allem ökologisch“), die PDS („nachdem diese Bundesregierung alles getan hat, um die PDS so stark zu machen, wie sie heute ist“), den Aufschwung („den wir wollen“), die Rechtsradikalen und die Außenpolitik (gegen die „närrische Idee, erst Waffen in die Welt zu schicken und dann junge Männer hinterher, die sie wieder einsammeln“). Nach der Rede springen die Delegierten sofort auf, anhaltende Standing ovations für den Vorsitzenden.

Scharping hat das Stimmungsruder in seiner Partei herumgerissen. Ein Kollege fühlt sich an Hamburg erinnert. Da hat Kohl im Februar seine müde Union eingeschworen — erfolgreich. Die Delegierten in Halle intonieren nach der Rede: „Jetzt geht's los.“ Und wählen Scharping mit 95 Prozent der Stimmen zum Kandidaten. Tissy Bruns, Halle

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