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Das Leben in der Schwebe

■ Gutshof Wienebüttel: Alternatives Wohnprojekt von privater Investorengruppe bedroht?

Klaus Cäsar Zehrer lebt in der Schwebe, vor allem nachts. Sobald sich der Student der Kulturwissenschaften auf sein Ruhebett wirft, ist es vorbei mit dem soliden Leben. Die Einrichtung seines Zimmers steht nämlich nicht fest auf dem Boden, sondern hängt an Seilen von der Decke herab. Auch der Weg zu seinem Reich, einem echten Gesamtkunstwerk, ist ein kleiner Balanceakt: Über mehrere schmale Bretter, die auf Steinen und Blechtonnen liegen, und eine schon etwas baufällige schmale Treppe muß man steigen, bis man im Dachgeschoß einer alten Scheune angelangt ist.

Doch Klaus schwebt auch unfreiwillig, denn das Gut Wienebüttel, auf dem er lebt, soll bald von privaten Investoren übernommen werden, die eine geriatrische Klinik auf dem denkmalgeschützten Herrengut planen.

Wer Klaus besuchen will, muß sich auf die Landstraße nach Lüneburg begeben. Ein Schild am Straßenrand zwischen Vögelsen und der Kleinstadt weist auf das Gut hin. Nach einer kurzen Fahrt über Feldwege gibt die Toreinfahrt den Blick auf ein efeuverhangenes Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert und Nebengebäude frei.

Seit 1992 verwirklicht auf dem halbverfallenen Gutshof eine Gruppe von 20- bis 30jährigen ihren Traum vom alternativen Leben. Mit viel Engagement hat die Lebensgemeinschaft aus StudentInnen und Berufstätigen einige der alten Häuser bewohnbar gemacht und frischen Wind in das brachliegende Anwesen gebracht.

Dächer wurden abgedichtet, Regenrinnen geflickt, Möbel aus eigenen Beständen und vom Sperrmüll herantransportiert. Wer keinen Platz in einem der neun Gebäude des Hofes fand, machte es sich in einem Bauwagen auf dem Gelände gemütlich. Ein Jugendumweltbüro fand hier Platz, eine Fahrradschmiede und eine Backstube. In der Küche verarbeiten die Wienebütteler Selbstgezogenes aus dem Bio-Gemüsegarten.

Doch die Vertreibung steht bevor, denn die derzeit 21 Bewohner Wienebüttels haben keinerlei Rechte an dem Gutshof. Das Grundstück gehört einer privaten Investorengruppe, die die alternative Lebensgemeinschaft bisher mietfrei auf dem Gelände duldete. „Schließlich tragen wir schon allein dadurch zur Instandhaltung des Herrenhauses bei, daß wir das Gebäude im Winter beheizen, ganz zu schweigen von den übrigen Arbeiten“, sagt Pale Rosenbaum, einer der Pioniere in Wienebüttel.

Den Eigentümern ist daran gelegen, die alten Gemäuer vor dem Verfall zu bewahren. Denn das Gebäudeensemble steht seit Mitte der achtziger Jahre unter Denkmalschutz. Das stellte die Stadt Lüneburg vor die schwierige Aufgabe, das Gut wieder einer wirtschaftlichen Nutzung zuzuführen. Wer das Grundstück erwerben wollte, war automatisch dazu verpflichtet, die alten Häuser zu restaurieren – eine teure Angelegenheit.

Um so gelegener kam der Stadt das Vorhaben des Rechtsanwalts Volkhard Niemann und des Arztes Heinrich Schleth, aus dem Gutshof eine geriatrische Klinik mit Apartments für betreutes Wohnen im Alter zu machen. Die beiden geplanten Neubauten, die für die Eigentumswohnungen gedacht sind, entsprechen zwar nicht ganz dem Stil des Gutes. Dafür sollten die alten Gebäude aber denkmalwürdig renoviert und zu einer Klinik samt Verwaltungsgebäuden umfunktioniert werden. Das Bauvorhaben wurde genehmigt.

Doch zunächst lief nicht alles nach Plan. Die gesetzlichen Krankenkassen lehnten den Antrag der Investoren auf Finanzierung des Seniorenzentrums ab. Heike Klein von der AOK Hannover: „Es besteht kein Handlungsbedarf für eine Reha-Klinik mit Geriatrie in dieser Gegend. Für uns ist es ausreichend und wirtschaftlicher, die bereits bestehende Dianaklinik in Bad Bevensen entsprechend auszurüsten.“ An diesem Entscheid änderte auch nichts, daß verschiedene Honoratioren des Landkreises Lüneburg für die Herren Schleth und Niemann bei den Krankenkassen „ein gutes Wort einlegen“ wollten.

Für rund 40 Millionen Mark entsteht deshalb jetzt auf dem Anwesen eine Privatklinik, die 80 Arbeitsplätze schaffen soll. Wer im Alter selbständig bleiben, aber auf medizinische Betreuung nicht verzichten will, kann sich für 170.000 Mark ein Apartment in den beiden Wohnblöcken kaufen, die neben den Gutsgebäuden neu errichtet werden sollen.

Die Wohngemeinschaft lebt einstweilen in der Ungewißheit, wann es mit der ländlichen Idylle für sie vorbei sein wird. Denn ein Mietvertrag wurde nie geschlossen, es gibt nur eine mündliche Zusicherung durch Anwalt Niemann, solange die BewohnerInnen dem Bau nicht im Wege stünden, könnten sie vorerst bleiben.

Bis jetzt wurde der Baubeginn jedoch immer wieder verzögert, während die alte Bausubstanz zunehmend verfällt. Am ersten April 1994 legte die Baufirma schließlich den Grundstein für die 102 neuen Apartments. Das Herrenhaus, Herzstück der früheren Anlage, bröckelt derweil vor sich hin.

Das gibt Helmut Dammann, der für die Grünen im Bauausschuß der Stadt Lüneburg sitzt, Anlaß zur Spekulation: „Es gibt im Osten Deutschlands einige Präzedenzfälle, die nach dem gleichen Schema abgewickelt werden. Man kauft ein Grundstück mit alten Gebäuden und trennt ein Filetstück ab, auf dem man rentable Neubauten errichtet. Die alten Häuser sind irgendwann so stark verfallen, daß sich nur noch ein Abriß lohnt.“

Für die WienebüttlerInnen eine Schreckensvision, denn sie hängen an den alten Gemäuern, auch wenn sie nicht wohnen bleiben können. Aber haben die Eigentümer Niemann, Schleth und Piskorski wirklich so viel Einfluß, daß sie sich einfach den Vorschriften des Denkmalschutzes entziehen können?

Dazu Klaus Püttmann, der bei der Bezirksregierung Lüneburg die Aufsicht über die Denkmalpflege führt: „Die Stadt hat im Kaufvertrag über das Gut Wienebüttel eindeutig festgelegt, daß die alten Gebäude ihrem kunsthistorischen Wert entsprechend innerhalb bestimmter Fristen instandgesetzt werden müssen. Ich bin mir mit der Stadt einig, daß bis spätestens Herbst etwas passieren muß.“ Werden die Fristen nicht eingehalten, drohen den Investoren Strafgelder.

Die WienebüttlerInnen planen einstweilen ein kleines Woodstock-Festival, das vom 19. bis zum 21. August auf dem Gelände stattfinden soll.

Volkhard Niemann hat vage in Aussicht gestellt, daß die Bauwagen eventuell auf einem Nebengelände abgestellt werden könnten. Aber Klaus glaubt nicht so recht daran: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand in einer Eigentumswohnung für 170.000 Mark die Aussicht auf ein Bauwagendorf genießen will.“ Und konkrete Pläne für einen anderen Stellplatz gibt es bisher nicht. So wird Klaus wohl weiterhin in der Schwebe leben müssen.

Ute Schmölz

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